Strafrechtliches Neuland: Stealthing

SCHWEIZ, KANTONALE RECHTSPRECHUNG: STEALTHING

Bezirksgericht Lausanne PE15.012315-LA, 9. Januar 2017: Zweitinstanzliches Urteil des Kantonsgerichts Waadt, 8.Mai 2017 Nr. PE15.012315-LAE/PBR
Bezirksgericht Bülach  DG180057, 13. Februar 2019, noch nicht rechtskräftig (Urteilsbegründung nicht zur Publikation freigegeben)
Basel-Stadt XX noch nicht rechtskräftig

Gastbeitrag und Kommentar von Nora SCHEIDEGGER
Das sog. Stealthing (von engl. stealth = List), d.h. wenn ein Sexualpartner vor oder während des Geschlechtsverkehrs heimlich das Kondom abstreift und in der Folge abredewidrig ungeschützten Verkehr praktiziert, beschäftigte bereits wiederholt die Schweizer Strafgerichte. Während im schweizweit ersten Fall zur Thematik das verpönte Verhalten erstinstanzlich noch als Vergewaltigung und zweitinstanzlich dann als Schändung  qualifiziert wurde, haben das Bezirksgericht Bülach ZH und das Baselbieter Strafgericht im Frühjahr die jeweiligen Beschuldigten freigesprochen. Stealthing könne weder als Vergewaltigung noch als Schändung qualifiziert werden; die entsprechende Rechtslücke müsse – wenn überhaupt – durch den Gesetzgeber geschlossen werden.

Die jüngsten Freisprüche sind mit Blick auf das Legalitätsprinzip nicht zu beanstanden: Wie bereits das Waadtländer Kantonsgericht 2017 richtig erkannt hat, ist die Vergewaltigung gemäss Art. 190 StGB bei Stealthing nicht einschlägig. Das Tatbestandsmerkmal «nötigen» in Art. 190 StGB verlangt klarerweise ein Handeln gegen den aktuellen Willen des Opfers. Beim Stealthing wird das Opfer aber gerade nicht gegen den Willen zum Geschlechtsverkehr bestimmt, vielmehr will der Täter durch das listige Vorgehen den potentiell entgegenstehenden Opferwillen umgehen. Stealthing-Opfer sind aber auch nicht «widerstandsunfähig» im Sinne des Schändungstatbestandes (Art. 191 StGB). Anders sah dies noch das Waadtländer Kantonsgericht 2017: Wer über eine wesentliche Tatsache getäuscht werde und nur deshalb in den Geschlechtsverkehr einwillige, sei aufgrund des fehlenden Wissens nicht in der Lage, sich dem eigentlich unerwünschten Beischlaf zu widersetzen und folglich widerstandsunfähig. Dies widerspricht allerdings klar der konstanten bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 191 StGB, wonach eine Täuschung alleine, etwa hinsichtlich der medizinischen Indikation einer sexuellen Handlung  oder auch hinsichtlich der Identität des Sexualpartners (BGE 119 IV 230, wo das Bundesgericht die Widerstandsunfähigkeit des Opfers zwar bejahte, allerdings nur aufgrund der Summierung mehrerer Faktoren wie Schläfrigkeit, Alkoholisierung und Irrtum) für die Annahme der Widerstandsunfähigkeit nicht ausreicht (so explizit in BGer 6B_453/2007 vom 19. Februar 2008, E. 3.4.2). Stealthing ist denn auch nicht mit den vom Bundesgericht regelmässig als Schändung taxierten sog. «Massagefällen» vergleichbar, bei denen Masseure oder Physiotherapeuten ihren Patientinnen überraschend an die Geschlechtsteile greifen (vgl. etwa BGE 133 IV 49 E. 7.4.). Denn während in diesen Fällen die Opfer schon gar nicht mit sexuellen Handlungen rechnen, ist beim Stealthing der Geschlechtsverkehr an sich für das Opfer nicht nur vorhersehbar, vielmehr ist dieses damit sogar vordergründig einverstanden. Anders als das körperlich widerstandsunfähige, das schlafende oder bewusstlose Opfer, dem bereits die ganz grundsätzliche Möglichkeit fehlt, überhaupt Widerstand gegen die unerwartete sexuelle Handlung zu leisten, trifft das getäuschte Opfer die irrtumsbelastete Entscheidung, keinen Widerstand gegen eine erwartete sexuelle Handlung zu leisten. Stealthing ist also anders gelagert als die «typischen» Fälle von Widerstandsunfähigkeit und eher im Bereich der List und Täuschung zu verorten – ein sexualstrafrechtlich nicht geregelter Bereich. Obwohl aus positivrechtlicher Sicht richtig, erscheinen die Freisprüche stossend und die verbleibende Rechtslücke unbefriedigend. Diese liesse sich zwar zumindest partiell schliessen, als die Körperverletzungsdelikte in Betracht kommen, wenn der Täter durch sein Verhalten eine Schwangerschaft, die Übertragung von Geschlechtskrankheiten oder zumindest die Durchführung entsprechender prophylaktischer Behandlungen verursacht. Unabhängig von dieser «gesundheitlichen» Dimension erscheinen Stealthing und andere qualifizierte Formen von täuschenden Verhaltensweisen aber auch als strafwürdige Verletzungen des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung. So ist in der allgemeinen Einwilligungslehre relativ unbestritten, dass bestimmte Täuschungen dazu führen, dass eine Zustimmung als nicht mehr selbstbestimmt eingeordnet wird. Warum dies gerade im höchstpersönlichen Bereich der Sexualität anders sein sollte, erschliesst sich nicht. Die Stealthing-Urteile sollten deshalb auch als Appell an den Gesetzgeber verstanden werden, sich eingehend mit der Irrtumsproblematik im Sexualstrafrecht auseinanderzusetzen.

Direkter Zugriff zum Urteil des Strafgerichts Basel-Landschaft vom 19.01.2019: 300 18 65