Personenfreizügigkeit von Regenbogenfamilien

SCHWEIZ: PERSONENFREIZÜGIGKEIT

2022

Sarah PROGIN-THEUERKAUF / Melanie BERGER, «Personenfreizügigkeit von Regenbogenfamilien - Analyse des EuGH-Urteils «Pancharevo» (Rs. C-490/20)», in: sui-generis.

Gastbeitrag von Sarah PROGIN-THEUERKAUF, Prof. Dr. iur., Lehrstuhl für Europarecht und Migrationsrecht, Universität Fribourg

Im Dezember 2021 hat die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im Fall «Pancharevo» erstmalig die Rechte von Regenbogenfamilien anerkannt, die von ihrer unionsrechtlichen Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben. Das Urteil knüpft an das EuGH-Urteil im Fall Coman aus dem Jahr 2018 an, in dem der Gerichtshof bereits das Recht auf Freizügigkeit von verheirateten gleichgeschlechtlichen Ehepaaren gestärkt hatte.


Sachverhalt
Konkret ging es um die Frage, ob ein Mitgliedstaat (hier: Bulgarien) verpflichtet ist, eine Geburtsurkunde (die Voraussetzung für die Ausstellung eines bulgarischen Passes oder Personalausweises ist) für ein Kind gleichgeschlechtlicher Eltern auszustellen, die verheiratet sind und in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Spanien) leben. Die spanischen Behörden hatten dem Kind eine Geburtsurkunde ausgestellt, in der beide Mütter als Eltern aufgeführt wurden. Die bulgarische Mutter beantragte in Sofia für ihre Tochter eine bulgarische Geburtsurkunde, um später ein bulgarisches Identitätsdokument für das Kind erhalten zu können. Die wurde ihr verweigert, solange sie keinen Nachweis über die leibliche Abstammung des Kindes von ihr vorlege. Diesen wollten die Mütter jedoch nicht erbringen. Die Verweigerung der Geburtsurkunde wurde u.a. damit begründet, dass die gleichgeschlechtliche Ehe in Bulgarien nicht zulässig sei.

Urteil des EuGH
Der EuGH sah in der Weigerung eine Verletzung der in Art. 20 und 21 AEUV garantierten Personenfreizügigkeit der Unionsbürger. Zudem bezog er zu Art. 7, 9, 24 und 45 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Stellung, welche die Rechte des Privat- und Familienlebens, die Ehefreiheit, den Schutz des Kindes sowie die Rechte auf Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit schützen.
Der Gerichtshof stellte klar, dass die bulgarischen Behörden (ebenso wie die Behörden anderer Mitgliedstaaten) verpflichtet seien, die spanische Geburtsurkunde anzuerkennen und dem Kind ein bulgarisches Identitätsdokument auszustellen. Er betonte dabei, dass eine Berufung auf Art. 4 Abs. 2 EUV, der die nationale Identität der Mitgliedstaaten schützt, nicht möglich sei. Denn aus der Pflicht, ein Identitätsdokument auszustellen, liesse sich keineswegs ableiten, dass im nationalen Recht eine gleichgeschlechtliche Elternschaft vorgesehen werden müsse.

Bedeutung des Falls
Das Urteil «Pancharevo» ist das erste Urteil des EuGH, das sich mit dem Recht auf Personenfreizügigkeit eines Kindes mit gleichgeschlechtlichen verheirateten Eltern befasst. Dementsprechend entfaltet es eine hohe Präjudizwirkung. Obschon das Personenstandsrecht im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten liegt und vom Unionsrecht grundsätzlich unberührt bleibt, betonte der EuGH, dass hier unionsrechtliche Grenzen bestehen, die von allen Mitgliedstaaten eingehalten und respektiert werden müssten. Die Weigerung der bulgarischen Behörden, einem Kind gleichgeschlechtlicher Eltern eine Geburtsurkunde auszustellen, habe aber eine Verletzung des Rechts auf Personenfreizügigkeit sowie der Grundrechte dieses Kindes zur Folge. Diese sei nicht zu rechtfertigen.


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Gender Law Newsletter FRI 2022#2, 01.06.2022 - Newsletter abonnieren