Das Geschlecht der Kunstfreiheit - Weshalb die künstlerische Freiheit von Frauen die Förderung ihrer Kunst bedingt

SCHWEIZ: KUNSTFREIHEIT

2020

Vanessa RÜEGGER, Kunstfreiheit, (Habilitation Universität Basel), Basel/Baden-Baden 2020.

Gastbeitrag von PD Dr. iur. Vanessa RÜEGGER, Advokatin, Mediatorin SAV

Der weibliche Akt: Die historische Stellung der Frauen in der Kunst
Der Frauenkörper ist bis heute eines der beliebtesten Objekte in der Kunst, vor allem in entblösster Form. Dass die Frau auch als tätiges Subjekt selbst Kunst erschaffen konnte, wurde ihr nicht gänzlich abgestritten. Aber sie tat dies immer nur als zweite Stimme im Orchester. Die erste Geige spielte der Mann. Die doppelte Semantik des weiblichen Akts fehlte in der Sprache der Kunst. Es ist nicht überraschend, dass sich diese Vergeschlechtlichung auch in der Rechtsprechung zur Kunst widerspiegelt. Oftmals geht es um die Frage, ob und wie Frauen dargestellt werden sollen oder was Frauen in geschlechtlichen Dingen tun dürfen, nie jedoch um die rechtliche Freiheit der Frauen in der Kunst.
Frauen waren bis ins späte 20. Jahrhundert von Kunstakademien und Kunstschulen ausgeschlossen und bei der staatlichen Kulturförderung gar nicht oder bedeutend weniger häufig berücksichtigt. Das reduzierte ihre Chancen bedeutend, als Künstlerinnen von einer Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden und auf dem Kunstmarkt zu bestehen. Die Stellung der Frauen in der Kunst legt die Bedeutung der institutionellen Bedingungen für die Ausübung der Kunstfreiheit offen.
 
Institutionalisierung patriarchaler Differenzen
«Es ist nicht leicht, ein junger Künstler zu sein», begann Meret Oppenheim ihre Dankesrede anlässlich der Verleihung des Kunstpreises der Stadt Basel 1974. «Noch schwieriger ist es, immer noch, für einen weiblichen Künstler», fuhr sie fort. Um dieselbe Zeit fragte die Kunsthistorikerin Linda Nochlin in ihrem Aufsatz «Why have there been no great women artists» nach der Abwesenheit von Künstlerinnen in der Kunstgeschichte. In ihrer Forschung zeigt sie auf, weshalb die Ansicht, Frauen besässen weder die Fähigkeiten noch den Willen, grossartige Kunst zu schaffen, einem patriarchalen Geniekult verhaftet bleibt und vielmehr alles Kunstschaffen auf formellen Konventionen aufbaut und eng eingebettet in institutionelle Strukturen vermittelt wird. Frauen waren von diesen Kunstinstitutionen und Ausbildungen ausgeschlossen. Es gab keine institutionelle Förderung für Frauen in der Kunst, keine Belohnungen, Preise, Stipendien, Professuren oder Ausstellungsplattformen. Entsprechend unzugänglich war den Frauen der Weg in die Kunst.
 
Kunsthandwerk - Die künstlerische Freiheit der Schweizer Hausfrau
Frauen, auch künstlerisch tätige Frauen, blieben in der Schweizer Gesellschaft bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus auf den Heimbereich zurückgewiesen. Kunst machen war für viele Frauen nur im Rahmen von häuslichem Kunsthandwerk möglich. Die Anerkennung ihrer Arbeiten als Kunst blieb aus. So ist es beispielsweise kein Zufall, dass die 1889 geborene Sophie Taeuber an der Textilabteilung der École des arts décoratifs in St. Gallen studierte und nicht an einer der von ihren männlichen Kollegen besuchten Kunstakademien. Ebenso wenig überrascht es, dass sie (ebenso wie eine Mehrzahl der Künstlerinnen des 19. und 20. Jahrhunderts) viele ihrer Kunstwerke aus Textilien schuf.
Als die Frauen wiederholt gleiche Ausstellungsrechte an den nationalen Kunstausstellungen forderten, besiegelte Ferdinand Hodler mit dem Satz «Mir wei känner Wiiber» den Ausschluss der Frauen aus den Schweizer Kunstinstitutionen. Frauen blieben bis 1971 vom Schweizerischen Kunstverein ausgeschlossen und hatten damit auch keinen Zugang zu den wichtigsten Ausstellungsmöglichkeiten, Fördergeldern und Vernetzungs- und Mitsprachemöglichkeiten in der Schweizer Kunst. Frauen bewegten sich diesen erschwerenden Umständen zum Trotz mit bemerkenswerter Ausdauer und Kreativität durch eine Welt, die sie nicht willkommen hiess.
 
Freiheit ohne Chancen - Die Interdependenz von Kunstfreiheit und Kunstförderung
Die schrittweise formell-rechtliche Gleichstellung der Künstlerinnen ab 1971 vermochte – wie in anderen Lebensbereichen auch – die informellen Konventionen der Kunstwelt nicht zu beseitigen. Die materielle Gleichstellung der Geschlechter ist im Kunstbetrieb bis heute nicht erreicht. Die Garantie einer formellen Freiheit gewährleistet noch nicht die für die tatsächliche Verwirklichung der Grundrechte notwendige materielle Gleichstellung. Künstlerische Freiheit ist entsprechend auf freiheitsfördernde Institutionen angewiesen. Angesprochen sind der die Lettern der Kunstfreiheit ausbuchstabierende Gesetzgeber, die den Gehalt der Kunstfreiheit substantiierende Rechtsprechung und eine konsequent an einem materiellen Begriff der Kunstfreiheit orientierte Kunstverwaltung und Kunstförderung.
Ein materielles Verständnis der Kunstfreiheit wirkt sich indirekt auch auf die Aufarbeitung, Kommentierung und Fortentwicklung von Archiven, Sammlungen und Museen auf. Aufgrund des eingeschränkten Kunstbegriffs des 19. und 20. Jahrhunderts und diskriminierenden Auffassungen des Künstlersubjekts fand die Kunst von Frauen kaum Eingang in den tradierten Kunst- und Kulturbestand. Das materielle Verständnis der Kunstfreiheit fördert auch die kritische Aufarbeitung der bestehenden Archive und Sammlungen und die Ergänzung der Bestände um ihre historisch bedingten Leerstellen.
 
Rechtliche Instrumente für Künstlerinnen, um gegen Diskriminierungen vorzugehen
Rechtlich stehen heute tätigen Künstlerinnen verschiedene Instrumente zur Verfügung, um sich gegen die nach wie vor bestehenden Diskriminierungen in der Kunst zu wehren. Das Kollektiv Les Créatives hat in seinem Carnet Rose wertvolle Informationen zur Rechtslage und Tipps für das konkrete Vorgehen im Einzelfall veröffentlicht. Betroffenen Künstlerinnen ist zu empfehlen, die Sachlage möglichst genau zu dokumentieren; sich auf dem Internet und bei Fachverbänden und Fachpersonen über die eigenen Rechte zu informieren und sich dann für denjenigen Weg zu entscheiden, der sich am besten eignet, um die Diskriminierung effektiv anzusprechen. Meistens stehen mehrere Optionen offen: vom klärenden Gespräch, über eine begleitete Verhandlung oder Mediation, bis hin zu Schlichtung, Rechtsverfahren oder gezielter Öffentlichkeitsarbeit.

Direkter Link zum Buch (helbling.ch), open access

Gender Law Newsletter FRI 2022#1, 01.03.2022 - Newsletter abonnieren