Gesetzgebung, die die Beendigung der Witwerrente vorsieht, wenn das jüngste Kind das Alter der Volljährigkeit erreicht, ist diskriminierend - Verstoss gegen Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK.

EUROPA: DISKRIMINIERUNG 

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (GK), Urteil, vom 10. Oktober 2022, Beeler gg. Schweiz (Beschwerde Nr. 78630/12).

Nachdem bereits die kleine Kammer im Jahr 2020 eine Diskriminierung gemäss Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK feststellte, folgte die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dieser Auffassung mit vorliegendem Entscheid.

Sachverhalt: Der Beschwerdeführer verlor im Alter von 41 Jahren seine Frau und die Mutter der beiden gemeinsamen Kinder an einem Unfall. Um sich um seine Töchter zu kümmern, kündigte er seine damalige Arbeitsstelle. Er erhielt aufgrund der AHV-Revision aus dem Jahr 1997 eine Hinterbliebenenrente. Mit Erreichen der Volljährigkeit seiner jüngsten Tochter änderte sich das. Die kantonale Ausgleichskasse teilte dem Beschwerdeführer mit, dass er gemäss AHVG nun keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente mehr habe. Dies im Gegensatz zu einer Witwe: der Anspruch auf Hinterbliebenenrente endet bei verwitweten Frauen nicht mit Volljährigkeit der Kinder.

Urteil:
Der EGMR stellte eine Verletzung von Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK fest. Es bestünde eine Ungleichbehandlung, die direkt an das Geschlecht anknüpfe. Da die Ungleichbehandlung durch keine qualifizierten sachlichen Gründe gerechtfertigt werden könne, stellte die Ungleichbehandlung eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar.

Heutige Situation nach dem Urteil der Grossen Kammer:
Das Urteil ist endgültig und rechtsverbindlich. Die Schweiz ist verpflichtet, das Urteil umzusetzen, damit sich die festgestellte Diskriminierung nicht wiederholt. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) hat bereits eine Übergangsregelung geschaffen, die dazu führt, dass Witwer weiterhin eine Hinterbliebenenrente beziehen dürfen, auch bei Volljährigkeit des jüngsten Kindes. Die Übergangsregelung gilt bis Inkrafttreten von angepassten Gesetzesbestimmungen - zurzeit wird ein Gesetzesentwurf ausgearbeitet. Zu hoffen bleibt, dass die Legislative die Diskriminierung nicht zulasten der Frauen auflöst, indem gleich sämtliche Leistungen gestrichen oder gekürzt werden...

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Gender Law Newsletter 2022#04, 01.12.2022