Vorzeitiges Ende des Anspruchs auf Mutterschaftsentschädigung

SCHWEIZ: MUTTERSCHAFTSENTSCHÄDIGUNG

Bundesgericht, 8. März 2022 (9C_469/2021)

Gastbeitrag von Ueli KIESER, Prof. Dr. iur., Rechtsanwalt, Zürich/St. Gallen 

Mit Urteil vom 8. März 2022 (9C_469/2021) beurteilte das Bundesgericht eine Beschwerde einer eidgenössischen Parlamentarierin, die sich auf ihren Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung bezog (1). Umstritten waren die folgenden Fragen:

  • Gilt die Ausübung eines Parlamentsmandats (auf nationaler Ebene) als Aufnahme einer «Erwerbstätigkeit» (mit der Folge, dass ab diesem Zeitpunkt der Anspruch auf die Mutterschaftsentschädigung erlischt)?
  • Führt die Wiederaufnahme einer Parlamentstätigkeit während des Mutterschaftsurlaubs dazu, dass – soweit die Aufnahme der Parlamentstätigkeit überhaupt als Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gilt – auch die Entschädigung für eine neben der Parlamentstätigkeit ausgeübte Erwerbstätigkeit erlischt?
  • Lässt sich die Regelung betreffend Ende des Anspruchs auf Mutterschaftsentschädigung mit Blick auf die Regelung der Vaterschaftsentschädigung halten?

Das Bundesgericht hat in seinem Urteil 9C_469/2021 die prinzipielle Tragweite der strittigen Fragen durchaus erkannt: Das Urteil ist in einer Besetzung mit fünf Richterinnen und Richtern gefällt worden und ist vorgesehen für die Publikation in der Amtlichen Sammlung.

Was hat das Bundesgericht in seinem Urteil im Wesentlichen festgelegt?

Im Hauptstandpunkt legt das Bundesgericht fest, dass die Ausübung eines Parlamentsmandats als «Erwerbstätigkeit» gilt, deren (auch nur vorübergehende) Aufnahme zum vollständigen zukünftigen Verlust der Mutterschaftsentschädigung führt. Mit der Wiederaufnahme der Parlamentstätigkeit ist der Mutterschaftsurlaub definitiv abgebrochen worden. Diese Festlegung ist wenig schlüssig und nicht nachvollziehbar. Die Parlamentstätigkeit stellt zwar in AHV-beitragsrechtlicher Hinsicht eine Erwerbstätigkeit dar. Dennoch entspricht sie nicht einer üblichen Erwerbstätigkeit. Wenn Art. 16d EOG (Bundesgesetz über den Erwerbsersatz; SR 834.1) festlegt, dass die Mutterschaftsentschädigung bei Aufnahme einer Erwerbstätigkeit während des Mutterschaftsurlaub für die Zukunft und umfassend erlischt, kann sich dies nicht auf die Ausübung eines Parlamentsmandats beziehen. Diese Auffassung wird auch vom früheren Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherungen, Jürg Brechbühl, in einem kürzlich erschienenen Aufsatz vertreten (Jahrbuch zum Sozialversicherungsrecht 2022, 91 f.). Auch in einer bereits vorliegenden Besprechung des Urteils hält Sabine Steiger-Sackmann fest, dass die Parlamentstätigkeit eben nicht einer «Erwerbstätigkeit» gleich zu stellen ist (Zeitschrift «sui generis» Ausgabe 2022-05-04, Verlust der Mutterschaftsentschädigung).

Das Urteil überzeugt in einem weiteren Punkt nicht. Selbst wenn die Aufnahme der Parlamentstätigkeit der Aufnahme einer «Erwerbstätigkeit» gleich zu stellen wäre, ist völlig sachwidrig und willkürlich, den Entschädigungsanspruch auch für eine neben der Parlamentstätigkeit bis zur Geburt ausgeübten Erwerbstätigkeit wegfallen zu lassen. Mit der vom Bundesgericht festgelegten Vorgehensweise werden Beschäftigte mit mehreren Erwerbstätigkeiten in sinnwidriger Weise «bestraft». Weshalb soll die Parlamentarierin, welche an einigen Parlamentssitzungen teilnimmt (aber ihre sonstige Erwerbstätigkeit in keinem Zeitpunkt je ausgeübt hat), auch den Entschädigungsanspruch für die andere Erwerbstätigkeit verlieren?

Leider ist das Bundesgericht schliesslich kaum auf die unterschiedliche Ausgestaltung von Mutterschaftsentschädigung und Vaterschaftsentschädigung eingegangen. Die Vaterschaftsentschädigung kann nach der heutigen Regelung vom Vater tageweise oder wochenweise nach freier Wahl bezogen werden, was ohne sachlichen Grund bei der Mutterschaftsentschädigung anders ausgestaltet ist. Weshalb sollen Väter den Vaterschaftsurlaub nach autonomer Entscheidung beziehen können, während bei Müttern das Gegenteil festgelegt wird?

Das Urteil ist unbefriedigend und nicht schlüssig. Es wird abzuwarten sein, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, an den das Urteil des Bundesgerichts weitergezogen wird, die Ausgangslage beurteilt.
 

(1) Im genannten Verfahren vertrat der Schreibende die Parlamentarierin.

Direkter Zugang zum Urteil (bger.ch)
Direkter Zugang zur Medienmitteilung von alliance F (alliancef.ch)

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