Unterhalt für ein mündiges Kind in Ausbildung geht Unterhalt für (Ex-) Ehegatten nicht vor

SCHWEIZ: FAMILIENRECHT

Bundesgericht, 11. Februar 2020 (146 III 169), mit Besprechung durch Béatrice Haeny und Kommentar 

Der Unterhaltsanspruch eines volljährigen Kindes in Ausbildung hat im Falle einer finanziellen Mankosituation hinter denjenigen eines unterhaltsberechtigten (Ex-) Ehegatten zurückzutreten. Diese Rechtsprechung ist folgenreich.
«Das Appellationsgericht des Kantons Tessin hatte eine Frau 2018 im Rahmen des Scheidungsverfahrens zu Unterhaltszahlungen an ihren früheren Gatten verpflichtet. Da sie auch den Unterhalt für die minderjährige Tochter und die 1997 geborene volljährige Tochter in Ausbildung zu gewährleisten habe, resultiere eine finanzielle Mankosituation; Unterhalt für den Ex-Mann habe sie deshalb erst ab Ende der Ausbildung der älteren Tochter zu leisten.»

«Das Bundesgericht heisst in seiner öffentlichen Beratung vom Dienstag die dagegen erhobene Beschwerde des Mannes teilweise gut und weist die Sache zu neuem Entscheid zurück ans Appellationsgericht.» (Zitate gemäss Pressemitteilung vom 11. Februar 2020).

Gemäss dem am 1. Januar 2017 in Kraft getretenen Art. 276a ZGB, geht die Unterhaltspflicht gegenüber dem minderjährigen Kind den anderen familienrechtlichen Unterhaltspflichten vor. In begründeten Fällen kann das Gericht von dieser Regel absehen, insbesondere um eine Benachteiligung des unterhaltsberechtigten volljährigen Kindes zu vermeiden. Das Bundesgericht führt aus, damit sei gemeint, dass in besonderen Fällen die Unterhaltspflicht gegenüber minderjährigen Kindern nicht derjenigen gegenüber volljährigen, sich noch in Ausbildung befindlichen Geschwistern vorgeht. Kein Thema sei hingegen die Hierarchie der Unterhaltsansprüche zwischen (Ex-) Ehegatten und volljährigem Kind in Ausbildung.

In Newsletter DroitMatrimonial.ch vom Juni 2020 findet sich eine französische Übersetzung dieses italienischsprachigen Urteils, kommentiert von Béatrice Haeny. Sie zeigt auf, wie mit dieser Rechtsprechung eine Ungleichbehandlung zwischen volljährigen Kindern geschaffen wird, je nach Zivilstand des unterhaltspflichtigen Elternteils. Weiter beschränkt sich die Bedeutungslosigkeit von Art. 276a Abs. 2 ZGB nicht auf das Verhältnis zum Ex-Ehegatten, sondern auch auf das Verhältnis zu minderjährigen Geschwistern: Gemäss Art. 277 Abs. 2 ZGB hat das volljährige Kind sowieso nur Anspruch auf Unterhalt, wenn es den Eltern nach den gesamten Umständen zugemutet werden darf, womit volljährige Kinder in Mankofällen definitionsgemäss gar keinen Unterhaltsanspruch haben können. Das neue Recht begnügt sich also nicht damit, die Situation des volljährigen Kindes gegenüber dem bisherigen Recht beizubehalten, sondern zu verschlechtern, weil nämlich nach neuem Recht auch der Betreuungsunterhalt für das minderjährige Kind – das Manko des betreuenden Elternteils – bei der Berechnung des Unterhaltbedarfs des minderjährigen Kindes einzubeziehen ist, womit sich der für das volljährige Kind zur Verfügung stehende Teil weiter reduziert. Damit «thront das minderjährige Kind allein auf dem Gipfel der vom Gesetzgeber gewollten Hierarchie». Auch sonst ist die Lage der volljährigen Kinder in der schweizerischen Rechtsordnung eine schwierige: Im Zivilprozess z.B. gelten sie nicht als besonders schutzbedürftig (womit z.B. die soziale Untersuchungsmaxime gemäss Art. 296 Abs. 1 und 3 ZPO nicht Anwendung findet) und im Steuerrecht sind Unterhaltsbeiträge an volljährige Kinder nicht abziehbar.
Da es nicht am Bundesgericht liegt, die Benachteiligung volljähriger Kinder verheirateter Eltern zu korrigieren, liegt der Ball beim Gesetzgeber.

Kommentar von Rosemarie Weibel
Je nach Familienkonstellation kann diese Hierarchie der Unterhaltsansprüche überhaupt unterschiedliche Folgen haben: Besteht das Manko und damit der Unterhaltsanspruch beim betreuenden Elternteil, bleibt der Unterhaltsanspruch dieses Familienteils insgesamt gleich oder gar besser, weil gegenüber minderjährigen Kindern der Eigenbedarf des unterhaltspflichtigen Elternteils restriktiver berechnet wird. Betreut der Elternteil mit dem besseren Einkommen gleichzeitig das/die minderjährige/n Kind/er und lebt nur das volljährige, noch in Ausbildung befindliche Kind beim andern Elternteil, geht dieser Familienteil möglicherweise gänzlich leer aus. Vorstellbar ist auch, dass ein volljähriges Kind sich mit dem unterhaltspflichtigen Elternteil dessen Notbedarf teilen muss während der andere Ehegatte und die minderjährigen Geschwister Unterhalt erhalten. Diese Hierarchie der Unterhaltsansprüche ist somit insgesamt unbefriedigend, was sich z.T. auch in den schlussendlich öfters finanziell begründeten Streitigkeiten um die Betreuung der Kinder bzw. darum, bei wem sie wohnen, zeigt. Weiter haben Hierarchie der Unterhaltsbeiträge verbunden mit dem Entscheid, wer bei wem wohnt, auch Folgen auf die möglichen Ansprüche gegenüber Sozial-, Ausbildungs- und Familienbeihilfen. Dies wäre bei einer allfälligen Revision mitzuberücksichtigen.


Direkter Zugang zur Pressemitteilung vom 11. Februar 2020: deutsch; französisch; italienisch
Direkter Zugang zum Urteil (bger.ch)
Beitrag von Béatrice Haeny in DroitMatrimonial.ch juin 2020