Tatbestand der Vergewaltigung

SCHWEIZ: SEXUALSTRAFRECHT

Bundesgericht, 19. Januar 2021 (6B_572/2020, 6B_493/2020, 6B_594/2020)
Der wegen Vergewaltigung und mehrfacher sexueller Nötigung Angeklagte A. wurde vom Obergericht Zürich freigesprochen. Das kantonale Gericht sah den objektiven Tatbestand der Vergewaltigung gemäss Art. 190 StGB als nicht erfüllt an. Das Bundesgericht hiess die dagegen erhobenen Beschwerden gut, hob den vorinstanzlichen Entscheid auf und wies die Sache an die Vorinstanz zurück.

Der dem Urteil zugrunde liegende Sachverhalt gestaltete sich wie folgt: B., A., C. und D. verliessen gemeinsam die Weihnachtsfeier der Stiftung E. Die 20-jährige B. war aufgrund von psychischen Problemen in dieser Stiftung in einem Aufbauprogramm der Invalidenversicherung tätig. A. war ihr Gruppenchef.
Nachdem sich die Gruppe an einem Imbissstand verpflegte, machten sie sich alle auf den Heimweg. Da A. weder das Angebot von C. bei ihm und seiner Freundin zu übernachten annahm, noch ein Taxi nachhause nehme wollte, bot ihm B. an bei ihr auf dem Sofa zu schlafen, da sie ihren angetrunkenen Kollegen nicht alleine auf der Strasse lassen wollte. Dieser willigte ein und ging mit A. in die Wohnung. In der Wohnung befand sich B's Bruder mit seinen Freunden laut Musik hörend in seinem Zimmer mit geschlossener Tür.
B. brachte A. eine Decke und Kissen ins Wohnzimmer und zog sich in ihr Zimmer zurück. Der Gruppenchef tauchte unangekündigt in ihrem Zimmer auf. Sie forderte ihn auf ihr Zimmer zu verlassen und brachte ihn mehrmals ins Wohnzimmer zurück. Kaum war sie zurück in ihrem Zimmer tauchte er wieder auf und setze sich zu ihr aufs Bett. Er fing an, B. anzufassen. Sie forderte ihn auf, damit aufzuhören. A. kam der Aufforderung nicht nach und öffnete seine Hose. Sie wiederholte sich und rutschte weg von ihm. Als sie nach ihrem Bruder rief, drückte B. ihr seine Hand auf den Mund und meinte, sie dürfe das nicht tun. A. bedrängte sie weiter, fasste sie an der Hüfte und versuchte sie mehrmals zu küssen. Er forderte sie auf ihm «eins zu blasen» was sie ablehnte. A. schob ihr die Pyjama- und Unterhose runter. B. versuchte ihn mit den Beinen wegzustossen, was ihr nicht gelangt, da er ihr körperlich überlegen war. Er wiederholte, dass sie das doch auch wolle und drang mit seinem Penis vaginal in sie ein. Dabei hielt er B. an den Handgelenken fest.
 
Gegen den Freispruch von A. gelangten die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und B. mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht.
 
Die Beschwerdeführerinnen rügten vor Bundesgericht eine Verletzung von Art. 190 StGB. Der Beschwerdegegner habe Gewalt angewandt und die Beschwerdeführerin 2 (A.) zudem unter psychischen Druck i.S.v. Art. 190 StGB gesetzt.
 
Das Bundesgericht hält fest, dass «die von der Rechtsprechung geforderte Gegenwehr des Opfers (...) eine tatkräftige und manifeste Willensbezeugung [meint], mit welcher dem Täter unmissverständlich klargemacht wird, mit sexuellen Handlungen nicht einverstanden zu sein.»
Das Bundesgericht führt sodann aus, dass vorliegend von einer Gewaltanwendung i.S.v. Art. 190 StGB auszugehen sei. Die Beschwerdeführerin 2 habe mit ihrer eindeutigen und fortwährenden Gegenwehr dem Beschwerdegegner klar zu verstehen gegeben, dass sie keinen Geschlechtsverkehr haben wolle. Von einem passiven Verhalten könne nicht die Rede sein. Auch hält das Bundesgericht fest, dass ihre geäusserten Selbstzweifel- und vorwürfe nicht massgebend seien, für die Frage, ob sie zum Geschlechtsverkehr genötigt worden sei.
Vorliegend habe sich der Beschwerdegegner über den klar manifestierten Willen der Beschwerdeführerin 2 hinweg gesetzt. Seine physische Einwirkung erfülle «das Tatbestandsmerkmal der Gewaltanwendung ohne Weiteres.» Von der Beschwerdeführerin 2 habe sodann kein weiterer Widerstand erwartet werden können bzw. sei ihr ein solcher nicht zumutbar gewesen.  Der objektive Tatbestand der Vergewaltigung sei erfüllt. (E. 4.4)
                                                  
 
Kommentar Meret Lüdi:
Das vorliegende Verfahren und insbesondere das Urteil des Obergerichts Zürich belegen erneut die Notwendigkeit einer Reform des Schweizer Sexualstrafrechts (Siehe dazu auch NL2020#03, NL 2020#02, NL 2019#02). Die Ausführungen des Bundesgerichts zeigen – trotz Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils – auf, dass sich das Opfer wehren muss und ein Nein für eine Verurteilung wegen Vergewaltigung nicht ausreichen würde. Der aktuelle Vergewaltigungstatbestand, der als Nötigungsdelikt konzipiert ist, genügt folglich den Anforderungen von Art. 36 Istanbul-Konvention, wonach alle nicht-einverständlichen sexuellen Handlungen angemessen bestraft werden müssen, nicht.
 
Wer das Urteil des Zürcher Obergerichts liest, kann deutlich erkennen, dass mit der aktuellen Rechtslage die sexuelle Selbstbestimmung nicht ausreichend geschützt wird. So äussert sich das Zürcher Obergericht zur Frage, ob der objektive Tatbestand von Art. 190 StGB erfüllt ist, wie folgt:
 
«Zusammenfassend kann damit festgehalten werden, dass der Privatklägerin zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung gestanden hätten, sich weiterhin körperlich oder verbal zu wehren, um Hilfe zu rufen, oder aus dem Zimmer zu flüchten. Hierauf kommt es vorliegend aber nicht an. Entscheidend ist demgegenüber, dass der Beschuldigte aufgrund des passiven Verhaltens der Privatklägerin kein Nötigungsmittel jedweder Art anwenden musste, um den (gegenteiligen) Willen der Privatklägerin zu brechen. Unter diesen Umständen werden auch die nach der Tat hervortretenden Selbstzweifel der Privatklägerin, wonach sie sich zu wenig gewehrt habe, umso verständlicher. Die von ihr geschilderte Abwehr mit den Füssen stellte sie gemäss eigenen Aussagen selber ein, ohne dass der Beschuldigte hierzu etwas beigetragen hätte, zum Beispiel indem er ihre Beine heruntergedrückt oder sich aufgrund seiner körperlichen Überlegenheit bei einem Gerangel durchgesetzt hätte. Das Vorgehen des Beschuldigten wird dadurch nicht minder egoistisch, rücksichtslos und kaltherzig. Eine ausreichende Nötigungshandlung im Sinne von Art. 190 Abs. 1 StGB ist hingegen nicht auszumachen, weshalb der Beschuldigte vom Vorwurf der Vergewaltigung freizusprechen ist. » (Urteil ZH, S. 26 f.)

Direkter Zugang zum Urteil des Bundesgericht (bger.ch)
Direkter Zugang zum Urteil des Obergerichts Zürich (gerichte-zh.ch)

Zum Stand der Revision: Die Kommission für Rechtsfragen des Ständerates hat am 1. Februar 2021 einen Vorentwurf zur Revision des Sexualstrafrechts in die Vernehmlassung geschickt. Die Frist für Stellungnahmen endet am 10. Mai 2021. Der Vorentwurf sieht u.a. einen sog. Auffangtatbestand mit dem Titel 'sexueller Übergriff' vor. Der Tatbestand der Vergewaltigung soll jedoch weiterhin als Nötigungsdelikt konzipiert bleiben. Es wird somit weder eine Nein-ist-Nein-Lösung noch eine Ja-ist-Ja-Lösung im Zusammenhang mit Art. 190 StGB vorgeschlagen. Die Vorlage wird zu Recht von der SP Frauen* als ungenügend kritisiert. Dies u.a., da der Tatbestand der Vergewaltigung nicht geändert werden soll und somit weiterhin von einem Nötigungmittel abhängt.

Zur Kampagne «Nur ja heisst ja – Art. 190 ändern» (ja-heisst-ja.ch)
Medienmitteilung der Kommission für Rechtsfragen des Ständerats zur Eröffnung der Vernehmlassung (parlament.ch)
Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates zum Vorentwurf vom 28. Januar 2021 (parlament.ch)
Vorentwurf des Bundesgesetzes über eine Revision des Sexualstrafrechts (parlament.ch)