Rechtsprechungsüberblick 2022 zum Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann (GlG)

SCHWEIZ: GLEICHSTELLUNGSGESETZ

Ueberblick über die Rechtsprechung des Bundes- und des Bundesverwaltungsgerichts im Jahr 2022

Eine Anstellungsdiskriminierung ist schwierig, aber nicht unmöglich zu beweisen; sexuelle Belästigungen werden nicht mehr toleriert, aber für Lohngleichheitsklagen oder missbräuchliche Kündigung bei Rückkehr aus dem Schwangerschaftsurlaub bleibt die Hürde trotz Beweislasterleichterung hoch.

Kurz vor Jahresende wurde eines der wenigen Bundesgerichtsurteile in Sachen Anstellungsdiskriminierung publiziert, BGE 8C_719/2021 vom 04.10.2022. Es ging dabei um die Kandidatur einer Frau als Wildhüterin im Kanton Freiburg: Bisher hatte noch nie eine Frau diese Funktion inne gehabt und anlässlich früherer Kandidaturen war der Beschwerdeführerin auch klar gemacht worden, Frauen seien für diesen Beruf nicht geeignet. Die kantonalen Gerichte hatten trotz eines Gutachtens, das zum Schluss kam, eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts sei wahrscheinlich, den Argumenten der Behörde Glauben geschenkt, wonach ihre Kandidatur nicht wegen des Geschlechts sondern wegen ihres Profils abgewiesen worden sei. Sie habe vor einigen Jahren in der Arbeitsgruppe gesessen, die das neue Jagdreglement erarbeitet hatte, das den Wünschen der Wildhüter nicht entsprach. Das Bundesgericht weist die Sache an die Vorinstanz zurück zur Erhebung weiterer Beweise und willkürfreier Beweiswürdigung: Zwar ist Art. 6 GlG betreffend Beweislasterleichterung auf die Anstellungsdiskriminierung nicht anwendbar, der Richter darf sich aber auf Indizien stützen und es reicht der Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Interessant ist auch, dass das Bundesgericht es nicht genügen lässt, dass inzwischen eine Frau ernannt worden war. Es sei nicht auszuschliessen, dass es sich dabei um eine Alibiübung gehandelt habe, auch weil die Frau die Stelle schlussendlich nicht angetreten hatte.
Ein weiteres Urteil, das wir bisher nicht besprochen haben, betrifft die Beschwerde einer Personalfirma, die privaten Unternehmen anbietet, Lohngleichheitsanalysen mit einem von ihr entwickelten arbeitswissenschaftlichen Modell vorzunehmen. Die Firma beschwerte sich beim Bundesverwaltungsgericht (BVGE A-2768/2021 vom 28. November 2022) gegen einen Nichteintretensentscheid des Eidgenössisches Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG, das sich geweigert hatte, auf einen Antrag der Personalfirma einzutreten, mit dem diese sich darüber beschwerte, dass die Richtlinien des EBG über Kontrollen im Beschaffungswesen als Kontrollinstrument einzig das Tool des Bundes (Logib) erwähnte. Das BVerg entschied, das EBG habe sich mit der Kritik auseinanderzusetzen, da nicht auszuschliessen sei, dass die Personalfirma durch diese Weisung in ihrer Wirtschaftsfreiheit tangiert sein könnte, sofern ihre Kunden den durch das unterschiedliche Analysetool bedingten Mehraufwand nicht in Kauf nehmen und es vorziehen, von Anfang an mit einer statistischen Methode zu arbeiten. Die Voraussetzungen für den Erlass einer Verfügung über Realakte gemäss Art. 25a VwVG sind erfüllt. Das EBG wird sich folglich mit dem Antrag auf Änderung der Richtlinie EGB und um Feststellung der Widerrechtlichkeit einer erneuten Durchführung einer Lohngleichheitsanalyse mit Logib bei beschaffungsrechtlichen Kontrollen bzw. die Beachtung von bisherigen Prüfberichten auseinandersetzen müssen.
Auch dieses Jahr ergingen erneut verschiedene Bundesgerichtsurteile in Sachen Kündigung nach Rückkehr aus dem Mutterschaftsurlaub: Das Bundesgericht bestätigte durchgehend, dass in solchen Fällen eine missbräuchliche Kündigung vermutet wird. In zwei der drei diesjährigen Fälle hat das BGE trotzdem die kantonalen Entscheide geschützt, wonach im konkreten Fall die Arbeitgeberin bewiesen habe, dass die Kündigung nichts mit der Schwangerschaft zu tun habe (siehe dazu NL 2022#2 und BGE 4A_479/2021 vom 29.04.2022). Im dritten Fall wurde das Dossier an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie eine mögliche Diskriminierung nicht nur aufgrund der Schwangerschaft, sondern auch aufgrund einer Behinderung genauer abkläre (siehe dazu NL 2022#3). Siehe dazu auch die zwei – für die Klägerinnen positiv ausgegangenen - Genfer Urteile in NL 2022#4.
Mehrere Männer haben sich beim Bundesgericht bzw. beim Bundesverwaltungsgericht gegen ihnen gegenüber wegen sexueller Belästigung ausgesprochene Sanktionen beschwert: Die Rechtsprechung ist streng, sexuelle Belästigungen werden nicht mehr toleriert und können bis zur sofortigen Kündigung führen, auch wenn es sich dabei um langjährige Mitarbeitende und «nur» um einen Klapps aufs Gesäss, einen Griff an die Brust oder um Witze im «Kasernengeist» handelt. Siehe dazu NL 2022#4, NL 2022#2. Schliesslich sind gewisse Verhalten ganz einfach unangemessen und verstossen schon deswegen gegen das Personalreglement, unabhängig von ihrer Einordnung unter Art. 4 GlG (NL 2021#1).
Um Lohndiskriminierung in der Genfer Kantonsverwaltung geht es in weiteren zwei Bundesgerichtsurteilen: Im ersten Fall wurde die Beschwerde abgewiesen, obwohl der Kanton offenbar im Falle der Klägerin von der Punktezahl seines eigenen Analysesystems abgewichen war (NL 2022#2), im zweiten Fall befand das BGE eine Lohndiskriminierung für wahrscheinlich, auch bei einer Lohndifferenz unter 15%, die sich im Laufe der Jahre verringerte (NL 2022#3).
Schliesslich ein kurzer Hinweis auf ein Urteil des Tessiner Obergerichts: Auch wo möglicherweise der Kündigungsschutz nach Art. 10 GlG nicht mehr greift, weil sich die Auseinandersetzung inzwischen auf andere Fragen verlagert hatte, ist eine Kündigung jedenfalls vermutungsweise missbräuchlich, wenn sie erfolgt, während die Arbeitnehmerin gewählte Arbeitnehmervertreterin i.S.v. Art. 336 Abs. 2 Bchst. b) OR ist (Obergericht Tessin, Urteil Nr. 21.2021.179 vom 09.05.2022). Es lohnt sich also unter Umständen, eventualiter alle möglichen Rechtsgrundlagen anzurufen.

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