Nichtanerkennung der im Ausland begründeten rechtlichen Vaterschaft während 8 Jahren verstösst gegen Art. 8 EMRK

EUROPA: KINDESVERHÄLTNIS DURCH LEIHMUTTERSCHAFT

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 22. November 2022, D.B. und andere gg. die Schweiz (Beschwerde Nr. 58817/15 und 5825/15).

Der Fall betrifft ein gleichgeschlechtliches Paar aus der Schweiz, das in einer eingetragenen Partnerschaft lebt(e) und in den USA einen Leihmutterschaftsvertrag abgeschlossen hatte, aus dem im Jahre 2011 der dritte Beschwerdeführer geboren worden ist. Die drei Beschwerdeführenden beklagten vor dem EGMR namentlich die Weigerung der Schweizer Behörden (und zuletzt des Bundesgerichts im Mai 2015, BGE 141 III 312), das von einem US-Gericht festgestellte Kindesverhältnis zwischen dem intentionalen sozialen Vater und dem durch Leihmutterschaft geborenen Kind (dritter Beschwerdeführer) anzuerkennen. – Das Kindesverhältnis mit dem genetisch verwandten Vater wurde dagegen anerkannt. Der EGMR stellt mit sechs Stimmen zu einer fest, dass Art. 8 EMRK aus Sicht des Kindes verletzt worden ist, denn die Begründung des Abstammungsverhältnisse zwischen diesem und dem intentionalen sozialen Vater war im Resultat rechtlich während 8 Jahren (von Geburt bis Adoptionsentscheid) nicht möglich. Dies widerspricht / widersprach der Meinung des EGMR, ausformuliert in seiner Advisory Opinion 2019 zur Anerkennung ausländischer Abstammungsverhältnisse begründet durch eine rechtmässige Leihmutterschaft im Ausland, dass unabhängig von den in Europa national geltenden Regelungsansätzen zur Leihmutterschaft (im Sach- und/oder im Kollisionsrecht) in Europa, jedes Kind die Möglichkeit haben muss das Abstammungsverhältnis zum rechtlich nicht anerkannten Elternteil, hier zum intentionalen sozialen Vater, rechtlich formalisieren zu können. Das Schweizer Zivilgesetzbuch wurde inzwischen revidiert, und ermöglicht die sog. Stiefkindadoption des Kindes des Lebenspartners ab 1.1.2018, während die «Ehe für alle» im Juli 2022 eingeführt worden ist. Das betreffende Kind konnte damit vom intentionalen sozialen Vater per Dezember 2018 adoptiert werden.

Kommentar Sandra Hotz: Inhaltlich mag das Urteil für die Betroffenen wohl eine gewisse Genugtuung darstellen. Es wird dem Kind auch eine Genugtuungssumme zugesprochen. Rechtlich bringt uns dieses Urteil aber leider nicht weiter. Es bleibt inhaltlich beim bekannten Kindesschutz gemäss Advisory Opinion 2019: Entweder das im Ausland begründete Kindesverhältnis wird direkt anerkannt oder aber es stehen andere Rechtswege wie die Adoption zur Verfügung, sodass ein Kindsverhältnis rechtlich in absehbarer Zeit begründet werden kann. Fehlen also beispielsweise die Adoptionsvoraussetzungen nach Art. 264c ZGB, so bleibt auch den Schweizerischen Zivilstand­behörden nichts anderes übrig, als das Kindsverhältnis rechtlich zu anerkennen. Schliesslich fällt auf, dass das erste Urteil des EGMR zur Schweizer Praxis der Kindsanerkennung in Leihmutterschaftsverhältnissen erst 8 Jahre nach dem Bundesgerichtsentscheid ergangen ist. Warum wohl? Um das Inkrafttreten der «Ehe für alle» im Juli 2022 abzuwarten?

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Gender Law Newsletter 2022#04, 01.12.2022