Newsletter FRI 2023#4 - Editorial

Liebe Leser*innen 
Lebendiges Erinnern an Margrith Bigler-Eggenberger - FRI Bern, 4. November 2023

Auf der Einladung heisst es: «Lebendiges Erinnern an Margrith Bigler-Eggenberger - Erste Schweizer Bundesrichterin, Sozialistin, Feministin». Margrith Bigler war nicht nur das, sie war auch eine Wissenschafterin und eine Partnerin, wobei sich diese vielfältigen Seiten nicht wirklich trennen lassen, denn im Leben von Margrith Bigler kamen alle Seiten zusammen und haben sich gegenseitig befruchtet oder überhaupt erst ermöglicht.

Die Sozialistin

Margrith Bigler stammte aus einem politischen Elternhaus in Uzwil. Beide Eltern waren engagierte SP-Mitglieder, die während des 2. Weltkrieges sozialistische Flüchtlinge und Kinder des Arbeiterhilfswerks beherbergten. Der Vater Mathias Eggenberger war St. Galler Regierungsrat, Nationalrat und Ständerat, die Mutter Mitbegründerin der sozialdemokratischen Frauengruppe Uzwil. Margrith Bigler trat auch in die SP ein, präsidierte die sozialistische Jugend und engagierte sich auch sonst in der Partei. Nach Einführung des Frauenstimm- und wahlrechts wurde sie 1972 in den Grossen Rat des Kantons St. Gallen gewählt. In der juristischen Kommission der SPS verfasste sie Vernehmlassungen u.a. zum Familienrecht.

Die Feministin

Dass Margrith Bigler eine Feministin wurde, ist gespiesen aus eigenen Erfahrungen. So störte sie sich im Elternhaus an der finanziellen Abhängigkeit der Mutter vom Vater und dass sie anders als ihr Bruder nicht abstimmen durfte. Schon 1959 und dann wieder 1971 kämpfte sie für das Frauenstimmrecht. Auch als Erwachsene erlebte sie Diskriminierungen als Frau. Beispielsweise brauchte sie für die St. Galler Anwaltsprüfung eine Ausnahmebewilligung, weil sie mit ihrem Mann im Kanton Bern wohnte und durch die Heirat 1959 das St. Galler Bürgerrecht verloren hatte. (Im Kanton Bern konnte sie die Prüfung nicht ablegen, weil der Kanton Bern das Doktorat der Universität Zürich nicht anerkannte.) Während des Gerichtspraktikums in Erlach erhielt sie keinen Lohn, weil ihr Mann genug verdiene. Als verheiratete Frau wurde sie in Biel und in Solothurn nicht fest als Gerichtsschreiberin angestellt. Als Richterin konnte sie im Kanton St. Gallen nur gewählt werden, weil der Regierungsrat für die Wahlen an das neu geschaffene Sozialversicherungsgericht zuständig war.
Gespiesen von den eigenen Erfahrungen und derjenigen vieler anderer Frauen hat Margrith Bigler als Politikerin, als Richterin und als Wissenschafterin für die Gleichstellung von Frau und Mann gekämpft. Sie war 2001 bei der Gründung der «Juristinnen Schweiz» dabei, 2004 war sie mit dem Verein ProFRI Mitstifterin der Stiftung FRI Schweizerisches Institut für feministische Rechtswissenschaft und Gender Law. Sie hat das FRI als ihre Alleinerbin eingesetzt, u.a. um jüngere Juristinnen in ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu unterstützen. Dabei hat sie hin und wieder die Angst geäussert, dass junge Frauen der errungenen Selbständigkeit zu wenig Sorge tragen.

Die Partnerin

Mit 25 Jahren, 1959, heiratete Margrith Eggenberger Kurt Bigler. Kurt Bigler geb. Bergheimer war als Jugendlicher aus Mannheim in ein KZ nach Frankreich deportiert worden. 1942 konnte er in die Schweiz fliehen und wurde 1953 von der Primarlehrerin Berta Bigler adoptiert. Margrith Bigler durfte während ihrer ganzen Laufbahn auf die Unterstützung ihres Mannes zählen, obwohl dies für ihn mit privaten und beruflichen Nachteilen verbunden war.

Esther Hörnlimann, die Biographin von Margrith, schrieb einmal: «Ein gewisser Zwiespalt zwischen der emanzipierten Kämpferin für die Gleichstellung der Frau und einer äusserst klassischen und rücksichtsvollen Rollenteilung im Privatleben prägte ihre fast 50 Ehejahre.» Kurt Bigler starb 2007 nach langer Krankheit und hinterliess Margrith in einer tiefen Trauer; nach dem Tod von Kurt hat sie fast nichts mehr publiziert. Zum Gedenken an ihn stiftete sie den Dr. Kurt Bigler/Bernheimer-Preis gegen Rassismus und Antisemitismus.

Die Richterin

Der Wille, sich für die Gerechtigkeit und für soziale Sicherheit einzusetzen, gab den Ausschlag für das Jusstudium. Margrith Bigler studierte in Genf und in Zürich, wo sie 1959 mit einer kriminologischen Dissertation das Studium abschloss. Nach der Heirat einen Monat nach Studienabschluss lebte das Ehepaar im Kanton Bern, Kurt unterrichtete in Ins und Margrith arbeitete für das Anwaltspraktikum erstmals in einem Gericht, dem Amtsgericht in Erlach, wo sie, wie bereits erwähnt, nichts verdiente, anschliessend ohne Festanstellung als Gerichtsschreiberin am Amtsgericht Biel und am Obergericht Solothurn. Feste Anstellungen gab es für verheiratete Juristinnen fast nur in der Advokatur und in Versicherungsgesellschaften. So trat sie als Anwältin in das Anwaltsbüro von Verena Jost, einer SP-Genossin, in Biel ein.
Ihre Richterinnenlaufbahn begann mit der bereits erwähnten Wahl an das neu geschaffene Sozialversicherungsgericht des Kantons St. Gallen. Nach der Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts im Bund im Jahr 1971 wurde sie bereits 1972 zur ersten nebenamtlichen Bundesrichterin gewählt, 1974 dann als erste ordentliche Bundesrichterin; der Bundesversammlung lag ein unvollständiges Curriculum vor, das nicht alle ihre einschlägigen Funktionen aufführte, sodass an ihren fachlichen Kompetenzen gezweifelt wurde. Da man Juristinnen am ehesten im Familienrecht sah, war sie am Bundesgericht immer der u.a. für das Familienrecht zuständigen Abteilung zugeteilt. Bei einigen Kollegen stiess sie als erste Bundesrichterin auf Ablehnung. Das konnte sie für sich selbst nicht wegstecken, und sie hat darüber gesprochen, sodass wir die Schwierigkeiten der ersten Bundesrichterin kennen. Als Bundesrichterin wirkte sie an mehreren für Frauen wichtigen Grundsatzfällen mit (erster Lohngleichheitsprozess 1977 einer Neuenburger Lehrerin; Feststellung, dass sich Sexarbeiterinnen auf die Wirtschaftsfreiheit berufen können; Pflicht zur Berücksichtigung der sozialen Absicherung im Scheidungsprozess; Anrechnung eines Stundenlohns für Hausarbeit im Schadenersatzprozess). Margrith Bigler wünschte sich immer eine sehende Justitia, die die Augen vor der Wirklichkeit der Frauen und Männer nicht verschliesst. 1994 trat sie als ordentliche und 1996 als ausserordentliche Bundesrichterin zurück.

Die Wissenschafterin

Margrith Bigler erlebte die Freude ihrer Grossmutter, als diese 1948 erstmals ihre AHV-Rente erhielt. Damit war der Grundstein für Margrith Biglers Interesse und Engagement im Sozialversicherungsrecht gelegt. 1966 wurde sie erste Lehrbeauftragte an der Handelshochschule St. Gallen (heute Universität St. Gallen), und zwar im Sozialversicherungsrecht. Von diesem Zeitpunkt an veröffentlichte sie wissenschaftliche Werke mit den Schwerpunkten Sozialversicherungsrecht, Familienrecht und Gleichstellung von Frau und Mann, wobei die Gebiete kaum getrennt voneinander betrachtet werden können. Die seither erreichten Fortschritte in der Gleichstellung von Frau und Mann haben wir zu einem schönen Teil Margrith Bigler zu verdanken. 1994 verlieh ihr die Universität St. Gallen den Ehrendoktortitel, 2003 die Universität Freiburg.

Wir alle verdanken der Sozialistin, der Feministin, der Richterin und der Wissenschafterin Margrith Bigler viel. Sie war eine mutige, gescheite, engagierte, starke und gleichzeitig im persönlichen Umgang bescheidene Frau, die die Menschen geliebt hat. Sie hat viel angestossen und verändert. Als Erste, als Pionierin hat sie die damit verbundenen Belastungen und Ablehnungen ertragen. Sie hat davon berichtet, dass das nicht vergessen geht. Sie hat ihre Chancen so genutzt, dass es den Frauen, uns Frauen heute besser geht als ihr und den Frauen ihrer Generation zu Beginn ihrer Laufbahn. Dafür sind wir dankbar. Wir sind auch dankbar, dass sie dem FRI mit ihrem Nachlass die Mittel gibt, in ihrem Sinn weiterzuarbeiten.

Für die Redaktion:
Alexandre Fraikin, Sandra Hotz, Manuela Hugentobler, Nils Kapferer, Isabella Tanner (verantwortliche Redaktorin), Rosemarie Weibel und mit Mitarbeit von Susanne Leuzinger