Newsletter FRI 2024#1 - Editorial

Liebe Leser*innen 

Situation der Frauen nach der Scheidung
 
«Ehegattenunterhalt als Bremse des Wandels der Geschlechterverhältnisse – Das Beispiel Deutschland» titulierten Maria Wersig und Annegret Künzel ihren Beitrag zum FRI-Kongress 2006 «Wandel der Geschlechterverhältnisse durch Recht?» Diskutiert wurde darin die ambivalente Bedeutung des Unterhaltsrechts für die deutsche Rechtsordnung, in der wie in der Schweiz zwar «das Familienrecht weitgehend geschlechtsneutralisiert und das Leitbild der Hausfrauenehe zugunsten der «Wahlfreiheit» aufgegeben, der Schritt zum Zweiverdienermodell» aber noch nicht vollzogen wurde (WERSIG Maria/KÜNZEL Annegret, Ehegattenunterhalt als Bremse des Wandels der Geschlechterverhältnisse – Das Beispiel Deutschland, in: Arioli Kathrin/Cottier Michelle/Farahmand Patricia/Küng Zita (Hrsg.), Wandel der Geschlechterverhältnisse durch Recht?, St. Gallen 2008, S. 218).

2017 trat in der Schweiz eine Revision zum Kindesunterhaltsrecht in Kraft, deren Ziel an sich war, die Position des Kindes unabhängig vom Zivilstand der Eltern tatsächlich zu stärken, indem ein rudimentärer Betreuungsunterhalt, d.h. die Lebenshaltungskosten des betreuenden Elternteils, neu zum Kindesunterhalt gehören sollte (Art. 285 ZGB). Woraufhin das Bundesgericht begann, neue Richtlinien für den Umfang einer zumutbaren Erwerbstätigkeit nebst der Betreuung von minderjährigen Kindern und neue Modelle für die Unterhaltsberechnung einzuführen, verbunden mit einer Verschärfung der Bedingungen für den nachehelichen Unterhalt. Dabei ging es ihm – wie Getrud Baud und Gabriella Mafeti in einem Beitrag in unserem Newsletter 2021#2 beleuchteten – auch um gesellschaftspolitische Überlegungen, die zu diesen Entscheiden geführt haben: Modernisierung des Familienrechts, ganz im Sinne der Gleichberechtigung, diesmal von Vätern und Ehemännern, sich um die Kinder kümmern zu dürfen – und weniger zahlen zu müssen. 


Wandel der Geschlechterverhältnisse durch Recht – allerdings auf Kosten der Frauen und insbesondere der Mütter. Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Realitäten hinken ja den gesellschaftspolitischen Vorstellungen bekanntlich hintendrein und sind erstaunlich resistent: Mütter tragen in der Regel nach wie vor die grösseren finanziellen Nachteile nach einer Scheidung oder Trennung, selbst unter Einberechnung der Unterhaltszahlungen, wie Heidi Stutz und Severin Bischof aufzeigen (siehe dazu den Beitrag in diesem Newsletter). Heiraten und Kinder haben sind für Frauen ein Armutsrisiko, was eigentlich nicht Sinn der «Modernisierung des Familienrechts» sein kann. Wie resistent das Ernährermodell trotz der hohen Scheidungsraten bleibt, verbunden mit der Vorstellung, dass technische – d.h. traditionell männerbesetzte – Berufe besser bezahlt sein dürfen, zeigt sich unter anderem in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Gleichstellungsgesetz (dazu die Rechtsprechungsübersicht GlG), aber auch in den Diskussionen zur angemessenen Entschädigung von Ehegatt*innen von Landwirt*innen im Scheidungsfall (siehe den Beitrag im vorliegenden Newsletter), bei denen etwa der Bauernverein zwar ein Beratungsgespräch mit den mitarbeitenden Familienmitgliedern im Rahmen von Finanzhilfen für einzelbetriebliche Strukturverbesserungen akzeptiert, aber bitte ja keine Verpflichtung zur Zahlung eines Barlohnes. Die aktuellen Sparvorhaben in Bund und Kantonen zeigen auch, wie fragil selbst die Unterstützung der allseits befürworteten familienergänzenden Kinderbetreuung bleibt (vgl. die Medienmitteilung des Bundesrates vom 24. Januar 2024), und dass Care-Arbeit ruhig der Schuldenbremse geopfert werden darf. Aber: Wir haben es satt, die Versäumnisse des Staates auszugleichen! -  Siamo stufe di sopperire alle mancanze dello Stato!
 
Vielleicht sollten wir wirklich radikaler denken, und mit Emilia Roig die Abschaffung der Ehe als hierarchische Institution, die weiblicher Entfaltung im Weg steht, verlangen, für eine Revolution der Liebe? – dazu ein kurzer Einblick auf Radio SRF 2: Kultur-Aktualität vom 17. April 2023.

Für die Redaktion:
Alexandre Fraikin, Sandra Hotz, Nils Kapferer, Isabella Tanner (verantwortliche Redaktorin) und Rosemarie Weibel