Newsletter FRI 2023#3 - Editorial

Liebe Leser*innen 

Am 23. Mai wurde die Eidgenössische Volksinitiative « Für ein modernes Bürgerrecht (Demokratie-Initiative) » lanciert. Sie fordert einen Paradigmenwechsel im Schweizer Bürger*innenrecht: Neu sollen ausländische Staatsangehörige, die in der Schweiz zu Hause sind, einen Anspruch auf Erteilung des Bürgerrechts haben, wenn sie sich a. seit fünf Jahren rechtmässig in der Schweiz aufhalten; b. nicht zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe verurteilt worden sind; c. die innere und äussere Sicherheit der Schweiz nicht gefährden; und d. Grundkenntnisse einer Landessprache haben.
Weshalb sollten sich feministische Rechtswissenschaftler*innen, -praktiker*innen und Rechtsanwendende mit dem Zugang zur Staatsbürger*innenschaft befassen, oder die Initiative gar unterstützen, wo doch die feministische Staatstheorie den Staat als patriarchales Herrschaftsinstrument und die «staatsbürgerliche Intelligibilität» als heteronormativ kritisieren (vgl. z.B. Gundula Ludwig, Feministische Staatstheorie)? Wo doch der moderne Staat patriarchale Verhältnisse zwar modifizieren, jedoch gemäß seiner Formbestimmtheit nicht grundsätzlich auflösen kann (Evi Genetti - Staat, Kapital und Geschlecht. Eine Bestandsaufnahme feministischer Staatskritik)?
Das deutsche Wörterbuch von Oxford Languages  definiert den Staat als «Gesamtheit der Institutionen, deren Zusammenwirken das dauerhafte und geordnete Zusammenleben der in einem bestimmten abgegrenzten Territorium lebenden Menschen gewährleisten soll.» Dazu gehört auch – so die Initiative – dass die rund zwei Millionen Menschen – ein Viertel der Bevölkerung –, die keinen Schweizer Pass haben, aber hier zuhause sind, als vollwertige und gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft anerkannt werden.
2021 hat das FRI seinen Kongress aus Anlass des 50jährigen «Jubiläums» des Frauenstimmrechts in der Schweiz genau zum Thema Demokratie durchgeführt: «Eingebettet in einen breit angelegten Demokratiediskurs will diese Jubiläumskonferenz die demokratischere Schweiz würdigen und zugleich vergangene Rechtsverletzungen aus feministischer und genderwissenschaftlicher Sicht adäquat darstellen. Zudem stellen wir aktuelle Fragen zur Wirkung der fehlenden oder vorhandenen politischen Rechte (z.B. Ausländer*innenstimmrecht, Stimmrecht ab 16 Jahren) und öffnen den Raum für utopische, aktivistische oder internationale Modelle.» (Siehe dazu auch das Editorial im Genderlaw Newsletter 2021#4; Hinweis: das Buch dazu ist in Vorbereitung!).
Und gerade aus einer feministischen, genderwissenschaftlichen Sicht, die intersektionale Perspektiven berücksichtigt, dürfte die «Demokratie-Initiative» einigermassen bahnbrechend sein: Wie Manuela Hugentobler und Barbara von Rütte in «Die sogenannte intersektionelle Diskriminierung – Der Umgang Schweizer Gerichte mit dem Konzept der Intersektionalität am Beispiel des Einbürgerungsrechts» (in cognitio 2022/LGS)  schön darlegen, führen die heutigen Einbürgerungskriterien und die Unfähigkeit der Gerichte, intersektionelle Diskriminierungen zu erkennen, zum Beispiel dazu, dass eine alleinstehende Mutter mit einem seit Geburt chronisch kranken Kind, das intensive Betreuung benötigt, wegen Sozialhilfeabhängigkeit nicht eingebürgert wird. Mit einem grundsätzlichen Anspruch auf die schweizerische Staatsbürger*innenschaft aller Menschen, die längerfristig hier wohnen, würden verschiedene im aktuellen Einbürgerungsrecht eingeschriebene Macht- und Herrschaftsverhältnisse untergraben - ganz im Sinne der feministischen Staatstheorie und der Visionen des FRI von Abbau von Herrschaft und Hierarchie. Und nicht zuletzt im Sinne einer vollwertigen Demokratie, die definitiv Schluss machen sollte mit einer nach einem patriarchalen System, nach Herkunft und Zensus definierten Zugehörigkeit (siehe dazu Rosemarie Weibel, Bürger*innen im Klassensystem).
Wie Enrica Rigo in “Cittadinanza, sangue e patriarcato: note per una critica femminista” schreibt: «Die Forderung nach Zugang zur Staatsbürgerschaft durch die Töchter der Migrationsgenerationen ist in erster Linie eine Forderung nach Gleichheit, die darauf abzielt, die von der sozialen Ordnung auferlegten Hierarchien und Privilegien zu untergraben. In diesem Sinne ist die Forderung nach einer Ausweitung der Staatsbürgerschaft zu verstehen und keinesfalls als eine Forderung, die zusammen mit der Institution der Staatsbürgerschaft die Ausgrenzung legitimiert, die sie unweigerlich mit sich bringt. Und noch einmal, insofern jede soziale Ordnung Positionen der Über- und Unterordnung und damit Hierarchien etabliert und verewigt, kann die Gleichheit nur ihre Antithese sein: Gleichheit ist, bevor sie eine neue Ordnung ist, der Raum, in dem jede Hierarchie und jedes Privileg in Frage gestellt wird. In diesem Sinne kann der Anspruch auf Zugang zur Staatsbürgerschaft nur eine Anspielung auf eine unvollendete Gleichheit sein, aber deswegen nicht weniger legitim und radikal.»

Für die Redaktion:
Alexandre Fraikin, Sandra Hotz, Manuela Hugentobler, Nils Kapferer, Isabella Tanner (verantwortliche Redaktorin), Rosemarie Weibel und mit Mitarbeit von Rebecca Rohm