Newsletter FRI 2022#4 - Editorial

Liebe Leser*innen 

Die Gleichstellung von Menschen ist durch trans-, inter- und nationales Recht vielfach gesichert, sowohl in Gesetz­gebung als auch Rechtsanwendung. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist Grundprinzip heutiger Rechtssysteme und das Diskriminierungsverbot ist ebenso Teil der rechtlichen Gleichstellung wie die besonderen Bestimmungen zur Herstellung von Gleich­stellung (beispielsweise in Bezug auf die Gleichstellung zwischen Frauen und Männern nach Art. 8 Abs. 3 BV, nach Art. 1, 3 Abs. 3 GlG oder nach Art. 4 CEDAW). Die Chancengleichheit ist heute ein zentrales Element in verschiedenen Rechts­bereichen, wie etwa dem Gesundheits-, Bildungs-, Arbeits- und dem Prozessrecht (sog. «Waffengleichheit» gestützt auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK), wobei der Begriff für sich genommen schon trügerisch ist, denn die Chancen müssen weder zwingend gleich sein, sondern eine Person «darf nicht in eine prozessuale Lage versetzt (…) werden, aus der sie keine vernünftige Chance hat, ihre Sache dem Gericht zu unterbreiten ohne gegenüber den anderen Verfahrensbeteiligten klar benachteiligt zu sein» (BGE 135 V 465, E. 4.3.1), noch ist definiert, was eine «Chance» ist. Dies bleibt von allem Anfang an offen für Interpretation: So ist die Chancengleichheit im Bildungsbereich nur dann nicht mehr gewahrt, wenn das betroffene Kind Lehrinhalte nicht vermittelt erhält, die in der «hiesigen Wertordnung als unverzichtbar gelten» (BGE 146 I 20, E. 4.2.; BGE 144 I 1 E. 2.2; BGE 130 I 352 E. 3.2 usw.)

Das Konzept der rechtlichen Gleich=stellung ist denn zugleich auch seit langem hinterfragt, denn es ist relativ (Gleichheit in Bezug auf was?) und basiert stets auf einem Vergleich von mindestens zwei Entitäten (X=Y). Geschlechterforschende fragen sich daher, ob die «Gleichheit mit der männlichen Norm?» oder die «Gleichheit mit der sich cisgender identifizierenden, aus eher wohlhabendem Hause stammenden Bevöl­kerungsnorm mit weisser Haut?» Ziel sein soll. Dieses Konzept steht heute vor besonderen Heraus­forderungen, zum einen, weil sich die soziökonomischen Ungleichheiten zwischen den Menschen global und lokal stetig vergrössern und zum anderen, weil wir immer noch nicht gelernt haben, dass Forderungen nach Gleichheit und nach Anerkennung von Differenzen nur vermeintliche Gegensätze sind, so dass manchmal ideologische Diskussionen dominieren statt bestehende Probleme anzupacken, wie zum Beispiel, die klar schlechtere Alters­vorsorge der teilzeitarbeitenden Menschen in der Schweiz, d.h. mehrheitlich der Frau zu beheben (bspw. Stéphanie PERRENOUD / Marc HÜRZELER, Inégalités dans la prévoyance professionnelle suisse et possibilités d'action, Bern 2021; Silvia STRUB / Heidi STUTZ, Macht Arbeit Frauen arm?, in: Frauenfragen 1.2004, S. 1 ff.; siehe auch Beitrag im NL 2022#1 oder das Editorial des NL 2021#1).

Höchste Zeit also, dass eine internationale Konferenz in Zürich unter dem Titel «Contested Equality: International and Comparative Legal Perspectives», u.a. das Thema der sozioökonomischen Ungleichheiten ins Zentrum des Gleichstellungsrecht stellt: sei es nach Internationalem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung oder sei es aus einer vertieften Perspektive der Verknüpfungen von Armut und Kastendenken nach einem indischen Länderrecht oder sei es dazu, welche informellen Massnahmen für den Mutterschutz im belgischen Recht bestehen oder welche kulturellen Schranken für Frauen beim Erwerb von Grundeigentum in Kenia. Immer wieder kommen die Beiträge auf die ökonomischen Zusammenhänge zurück, sei es bei einer kritisch rechtswissenschaftlichen Perspektive zu autonomen Waffensystemen im internationalen Recht, bei der Benachteiligung der bereits Benachteiligten im Bildungswesen oder wenn über das Recht auf Gesundheit von Transgender-Personen gesprochen wird. Den Organisatorinnen Elif Askin, Marisa Beier und Hanna Stoll der Rechts­wissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich, For­schungsschwerpunkt «Equality of Opportunity», sei von Seiten des FRI herzlich gratuliert!

Für die Redaktion:
Michelle Cottier, Alexandre Fraikin, Sandra Hotz, Manuela Hugentobler, Nils Kapferer, Meret Lüdi (verantwortliche Redaktorin) und Rosemarie Weibel