Newsletter FRI 2022#3 - Editorial

Liebe Leser*innen 

Der Supreme Court der Vereinigten Staaten schuf mit dem Urteil Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization vom 24. Juni 2022 das verfassungsmässige Recht auf Abtreibung ab. Die früheren Urteile Roe v. Wade (1973) und Planned Parenthood v. Casey (1992)  die das Recht auf Abtreibung als Teilgehalt des Rechts auf Privatleben anerkanntenhat das Gericht aufgehoben. Es ist daher erneut zulässig, Schwangerschaftsabbrüche zu verbieten und es liegt nun in der Kompetenz der Bundestaaten, über die Einführung und Ausgestaltung von Abtreibungsverboten zu entscheiden. Beim Urteil, welches mit einer Mehrheit von 6 zu 3 Richter*innen ergangen ist, handelt es sich um eine unübersehbar parteipolitische Entscheidung. Die Mehrheit des Supreme Court begründet den Entscheid damit, dass Roe v. Wade «egregiously wrong» gewesen sei, dies unter anderem, da die Verfassung kein explizites Recht auf Abtreibung enthielte (sog. originalistische Auslegung, die auf das Verständnis der Verfassung zum Zeitpunkt der Entstehung abstellt; originalism). Ebenso sei der Entscheid zugunsten der Bundesstaaten und stehe daher für ein «Mehr» an Demokratie. In den Dissenting opinions wird insbesondere kritisiert, dass Abtreibungsverbote marginalisierte Personen ganz besonders stark treffen werde. Wer es sich leisten kann, fährt in einen anderen Bundesstaat, wer das nicht kann, muss heimlich unter gefährlichen Bedingungen abtreiben oder ein Abbruch ist erst gar nicht möglich. Neben der Kritik an der originalistischen, stark textbezogenen und teilweise falschen historischen Auslegung äusserte die Minderheit der Richter*innen ihre Besorgnis betreffend der nun in Frage gestellten Legitimität des Gerichts. Wie CUENI zu Recht festhält, blendet ausserdem das Argument des «Mehr» an Demokratie, den Zweck des Verfassungsgerichts, insbesondere diskriminierte Personen(gruppen) in ihren Rechten zu schützen, aus. Für die Zukunft bringt dieser Entscheid eine grosse Rechtsunsicherheit mit sich – sei es für die gleichgeschlechtliche Ehe oder das verfassungsmässige Recht auf Zugang zu Verhütungsmitteln (siehe zum Ganzen Raphaela CUENI, Von Roe über Casey zu Dobbs: Schwangerschaftsabbrüche im Verfassungsrecht der USA, in: cognitio 2022/LGS; Sarah Katharina STEIN, Dobbs kills Roe: Das Recht auf Abtreibung in den USA, VerfBlog 2022/6/27).
 
Auch in Europa sind Abtreibungsgegner*innen präsent. Im Oktober 2020 erklärte das polnische Verfassungsgericht Teile des bereits restriktiven Abtreibungsrechts als verfassungswidrig und die polnische Regierung führte dieses Jahr ein Register ein, in welchem jede Schwangerschaft eingetragen wird. In der Schweiz sind sodann zwei Volksinitiativen lanciert, die Schwangerschaftsabbrüche einschränken wollen (Lebensfähige-Babys-retten-Initiative und Einmal-darüber-schlafen-Initiative) – diese werden jedoch als chancenlos eingeschätzt. Letztmals stimmte die Schweizer Stimmbevölkerung im Jahr 2014 über eine das Abtreibungsrecht einschränkende Volksinitiative ab. Diese wollte die Kosten für Schwangerschaftsabbrüche privatisieren – die Initiative wurde mit fast 70% abgelehnt.
Dennoch sollte nicht vergessen werden, dass der heutigen Fristenregelung ein harter politischer Kampf voraus ging und die heutige Regelung erst seit dem Jahr 2002 in Kraft ist (siehe dazu Valentina CHIOFALO / Marlene WAGNER, Der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland und der Schweiz, in: cognitio 2022/LGS). Ausserdem sind die Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch in der Schweiz nach wie vor im Strafgesetzbuch geregelt, was es zu ändern gilt, denn bei Abtreibungen handelt es sich primär um eine Frage der Gesundheit. Eine Regelung ausserhalb des Strafrechts – wie in Frankreich, Belgien oder dem Vereinigten Königreich – wird diesem Umstand gerecht und führt zu einer Entstigmatisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Eine entsprechende parlamentarische Initiative hat die Parlamentarierin Léonore Porchet dieses Jahr im Nationalrat lanciert.
 
Wie Laurie Penny in ihrem neusten Buch mit dem Titel «Sexual Revolution, Modern Fascims and the Feminist Fightback» (2022) aufzeigt, handelt es sich bei Bestrebungen, Abtreibungsrechte abzuschaffen oder einzuschränken letztlich nie um eine Frage des Rechts auf Leben. Im Gegenteil: Das Ziel ist die staatliche Kontrolle über die weibliche Fortpflanzung und die Einschränkung der Autonomie – ebenso spielen Rassismus, Klassismus und welches Leben schützenswert ist in der Anti-Choice-Bewegung eine tragende Rolle (siehe dazu auch Lotta SUTER, Welches Leben? Welche Wahl?, WOZ Nr. 19/2022; Franziska HEINISCH, Abtreibungen sind eine Klassenfrage, Missy Magazine).
 
«Es muss übrigens darauf hingewiesen werden, dass die Gesellschaft, die so heftig bestrebt ist, die Rechte des Embryos zu verteidigen, sich um die Kinder nicht kümmert, sowie sie auf der Welt sind.» – Simone de Beauvoir

Für die Redaktion:
Michelle Cottier, Alexandre Fraikin, Sandra Hotz, Manuela Hugentobler, Nils Kapferer, Meret Lüdi (verantwortliche Redaktorin) und Rosemarie Weibel