Newsletter 2022#1 - Editorial

Liebe Leser*innen

Am 1. April 2018 ist das am 11. Mai 2011 in Istanbul abgeschlossene Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) in der Schweiz in Kraft getreten, über das wir bereits öfters berichtet haben (siehe insbesondere den Beitrag auf Französisch im Newsletter 2015#2 und den Beitrag auf Deutsch im Newsletter 2017#2). Die Konvention entstand aus der Erkenntnis des engen Zusammenhangs von Diskriminierung und geschlechtsspezifischer Gewalt. Die Konvention folgt dabei einem ganzheitlichen Ansatz (Prävention, umfassender Schutz und Hilfe, Strafverfolgung und -sanktionen, aber auch umfassende Massnahmen und Politiken), mit einem Augenmerk auch auf Gruppen, die von multiplen Formen der Diskriminierung betroffen und damit besonders vulnerabel sind (Intersektionalität) (vgl. Nationale Konferenz 2018 – Umsetzung der Istanbul Konvention in der Schweiz).

Die Konvention hat der Bekämpfung der häuslichen Gewalt und allgemein der geschlechtsspezifischen Gewalt neuen Elan verliehen. Dabei wird auch die besondere Situation von häuslicher Gewalt im Migrationskontext thematisiert. Das Informationsblatt Nr. B5 des eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG; S. 12) zum Beispiel weist unter anderem darauf hin, dass «ausländerrechtliche Bestimmungen zum Aufenthaltsrecht die Abhängigkeit zwischen Opfer und Tatperson verstärken und damit das Risiko der (fortgesetzten) Gewalt erhöhen» können.

Das Ausländer*innen- und Integrationsgesetz (AIG) enthält trotz dieser Erkenntnis solche Bestimmungen. Demnach hängt beim Familiennachzug das Aufenthaltsrecht von einem gemeinsamen Haushalt der Ehegatt*innen ab (Art. 42-44 AIG). Besonders stark ist das Machtgefälle, da die Voraussetzungen für die Erteilung der zivilstandsunabhängigen Niederlassungsbewilligung in der Schweiz äusserst hoch sind. Insbesondere für Ehepartner*innen von Personen mit Aufenthalts- oder Kurzaufenthaltsbewilligung besteht auch nach jahrelangem Aufenthalt in der Schweiz keinen Anspruch auf diese. Ausserdem ist es gerade in engen wirtschaftlichen Verhältnissen besonders schwierig, in den Genuss der Niederlassungsbewilligung zu kommen (Art. 34 AIG), da zu deren Erteilung zum einen keine Widerrufsgründe nach Art. 62 oder 63 Abs. 2 AIG vorliegen dürfen und zum anderen die Integrationskriterien gemäss Art. 58a AIG erfüllt sein müssen. In der Praxis heisst dies, dass die Ausländer*in oder eine Person, für die sie oder er zu sorgen hat, nicht auf Sozialhilfe angewiesen sein darf und auch nicht riskieren darf, davon abhängig zu werden.

Art. 50 Abs. 1 AIG, der bei einer Trennung der Ehegatt*innen Anwendung findet, schützt Opfer von häuslicher Gewalt sodann nur ungenügend. Einerseits findet der gesetzliche Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung für Ehegatt*innen von Personen mit Aufenthalts- und Kurzaufenthaltsbewilligung keine Anwendung und andererseits wird die Härtefallbestimmung gemäss Art. 50 Abs. 1 lit. b AIG in der Praxis zu restriktiv gehandhabt und geht mit dem Risiko einher, dass das Opfer die Schweiz dennoch verlassen muss. Damit wird in einem gewissen Sinn das Gesetz zu einem Instrument der Gewaltausübung oder erleichtert diese zumindest. Wer sich wehrt, riskiert die Trennung und damit den Verlust der Aufenthaltsberechtigung – der eigenen oder derjenigen des Täters (vgl. Art. 66a StGB), was das Opfer in ein Dilemma bringt.

Damit verstösst das Schweizer Recht gegen das Diskriminierungsverbot von Art. 4 Abs. 3 der Konvention. Demnach ist die Durchführung des Übereinkommens – insbesondere von Massnahmen zum Schutz der Rechte der Opfer – diskriminierungsfrei sicherzustellen. Dabei werden als diskriminierende Kriterien unter anderem der Migrant*innen- oder Flüchtlingsstatus, die nationale oder soziale Herkunft und das Vermögen genannt. Gerade das Risiko des Verlusts der Aufenthaltsbewilligung verhindert aber den Schutz der Rechte der Opfer (dazu wenn auch eher am Rande das Rechtsgutachten des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SMRK) zum Diskriminierungsverbot gemäss Istanbul-Konvention, insbesondere S. 41 ff. und den diesbezüglichen Gastbeitrag in diesem Newsletter).

Die Istanbul-Konvention sieht in diesem Zusammenhang weiter vor, dass «die Vertragsparteien die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Massnahmen treffen, um sicherzustellen, dass ein Opfer, dessen Aufenthaltsstatus vom Aufenthaltsstatus seiner Ehefrau oder Partnerin beziehungsweise seines Ehemanns oder Partners im Sinne des internen Rechts abhängt, im Fall der Auflösung der Ehe oder Beziehung bei besonders schwierigen Umständen auf Antrag einen eigenständigen Aufenthaltstitel unabhängig von der Dauer der Ehe oder Beziehung erhält» (Art. 59). Genau zu dieser Vorschrift hat nun aber die Schweiz einen Vorbehalt angebracht (Erklärung). Dabei beschränkt selbst die Konvention die entsprechende staatliche Verpflichtung auf «besonders schwierige Umstände», obschon man weiss, dass dem erstmaligen Auftreten von körperlicher (und damit leichter beweisbarer) Gewalt häufig ein Eskalationsprozess vorausgeht, «etwa in Form verbaler Aggressivität, feindseliger Verhaltensmuster oder eifersüchtigem und kontrollierendem Verhalten», d.h. ebenfalls unter die Konvention fallende Gewaltformen (vgl. EGB, Infoblatt A3, «Gewaltdynamiken und Interventionsansätze», S. 5).

Umso begrüssenswerter ist der Umstand, dass die Staatspolitische Kommission des Nationalrates in ihrer Sitzung vom 5. November 2021 nun im Ausländer*innen- und Integrationsrecht Handlungsbedarf erkannt und eine Kommissionsinitiative eingereicht hat, um die ausländerrechtliche Situation von Opfern häuslicher Gewalt zu verbessern (siehe dazu den Beitrag in diesem Newsletter). Interessant erscheint uns auch die im Tessin eingereichte parlamentarische Initiative von Gina La Mantia u.a., mit der beantragt wird, speziell Opfern häuslicher Gewalt unabhängig von der ausländerrechtlichen Bewilligung bei der Arbeitsvermittlung – und somit der Erfüllung des wirtschaftlichen Integrationskriteriums – beizustehen (IE659 vom 22. November 2021). Zu hoffen bleibt, dass der Begriff der häuslichen Gewalt konventionsgemäss (Art. 3 der Konvention) umfassend und nicht zu restriktiv ausgelegt wird und dass auch bei der Vermeidung erneuter Traumatisierung von Asylbewerber*innen Fortschritte erzielt werden (siehe dazu auch den Beitrag zur Veranstaltung in Bellinzona vom 1. Dezember 2021).

Für die Redaktion:
Michelle Cottier, Alexandre Fraikin, Sandra Hotz, Manuela Hugentobler, Nils Kapferer, Meret Lüdi (verantwortliche Redaktorin) und Rosemarie Weibel