Newsletter FRI 2021#1 - Editorial

Liebe Leser*innen

Am 7. Februar 1971 waren die Schweizer Männer eingeladen, auf ihren Stimmzettel Ja zu schreiben, wenn sie der Meinung waren, Schweizerinnen sollten ebensolche Zettel zum Ausfüllen bekommen und Nein zu schreiben, wenn sie der Ansicht waren, die Männer sollten das besser weiterhin alleine machen. So, wie sie es seit 1848 gemacht hatten. Es war also die Frage, OB Schweizerinnen politische Rechte bekommen sollten.

50 Jahre nach dem historischen Ja 1971 – zwei Generationen später – ist die Frage, OB für Schweizerinnen nicht mehr aktuell. Leider ist die Frage, OB immer noch für einen grossen Teil der Schweizer Bevölkerung aktuell. So fehlt es in der Schweiz weiterhin an einem Ausländer*innenstimmrecht und nicht allen Menschen mit Behinderungen steht das Stimm- und Wahlrecht zu. Auch im heutigen Stimmrechtsalter 18 liegt ein Ausschlussgrund für die politische Partizipation.
Neben dem Recht auf politische Teilhabe bleiben die Fragen nach dem Wo, Wann, Wie nach wie vor offen. Dass diese Fragen gestellt werden, dazu hat der Verein CH2021, der wesentlich durch ein Startdarlehen des FRI unterstützt wurde, viel beigetragen. Unterschiedlichste gesellschaftliche Kreise wurden auf das Jubiläum angesprochen und angeregt, sich aus ihrer jeweiligen Perspektive in diesem Thema zu positionieren. Es ist gelungen: Ein Blick auf die Aktionslandkarte auf www.ch2021.ch zeigt, dass in allen Regionen der Schweiz Vieles entwickelt wurde. Was zur Publikation geplant war, konnte auch veröffentlicht werden: von Kalendern, Büchern, pädagogischen Hilfsmitteln, über Stickeralben, Songs, bis hin zu Podcasts, Videos, Radio- und TV-Sendungen. Was als physische Treffen geplant war, musste abgesagt oder verschoben werden: der Staatsakt im Bundeshaus, Ausstellungseröffnungen, Lichtinstallationen, Chortreffen, Theateraufführungen, Diskussionen, Fachkongresse bis zu Aktionen ernsthafter und ironischer Art.

Das FRI hatte im Wesentlichen zwei Projekte im Zusammenhang mit dem Jubiläum vor. Einerseits wollten wir die akademische Welt an den Universitäten frühzeitig inspirieren, sich das Thema vorzunehmen und andererseits waren wir an einer historischen und menschenrechtlichen Studie interessiert, zur Frage, warum es in der Schweiz bis zur Einführung des Frauenstimmrechts so lange gedauert hat.
In der akademischen Welt stiessen wir bei vielen Verbündeten aus verschiedenen Disziplinen auf ein offenes Ohr. Im März starten Ringvorlesungen an mehreren Universitäten für das Frühjahrssemester. An der Universität Bern findet die Ringvorlesung «Happy Helvetia? 50 Jahre Frauenstimmrecht», organisiert durch das interdisziplinäre Zentrum für Geschlechterforschung (IZFG), statt. An der Universität Basel läuft die Ringvorlesung unter dem Titel «Aus Gründen der Gerechtigkeit. 50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz – und die unfertige Geschichte der Gleichheit». An der Universität Zürich trägt die Ringvorlesung den Titel «Ebenso neu als kühn – 50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz».
Die Studie im Auftrag des FRI der beiden Professorinnen Judith Wyttenbach und Brigitte Studer, die sich mit historischen und juristischen Aspekten der Einführung des Frauenstimmrechts auseinandersetzt, steht kurz vor der Veröffentlichung. Wer waren die Akteur*innen? Welche Machtstrukturen und Mechanismen führten zur langen Ablehnung und schlussendlich zur Annahme des Frauenstimmrechts? Und: welche Faktoren spielten sonst noch eine Rolle? Welche Schlüsse können wir für die Gegenwart und die Zukunft daraus ziehen? Welche Lehren bringt uns dieses Wissen für die Demokratie der Zukunft? Vom 9.-11. September 2021 werden wir die Erkenntnisse im Rahmen der Konferenz für Gender Law an der Universität Freiburg diskutieren. Wir laden aber auch andere zivilgesellschaftliche Kreise ein, sich mit den Ergebnissen zu befassen. Nehmt mit uns Kontakt auf – wir möchten den Diskurs breit führen. Wir bedanken uns bei allen 226 Personen, die uns via Crowdfunding auch finanziell unterstützt haben.

Die unterschiedlichen Gefühlslagen, die im Zusammenhang mit dem 50 Jahre-Jubiläum des Stimmrechts für Frauen in der Schweiz auftauchen, machen deutlich: Jubeln und abhaken kann’s nicht sein. Wir stellen Unrecht an Schweizerinnen fest, das Jahrzehnte dauerte und auf verschiedenen Staatsebenen immer wieder bestätigt wurde. Auf dieses Unrecht aufmerksam zu machen ist heute nach wie vor notwendig. Dazu hat der Vorstand des Vereins CH2021 ein Manifest verfasst mit dem Titel «Dampf machen». Darin wird verlangt, dass unsere Regierung und unser Parlament diesen Bewusstseinsprozess aktiv angehen und einen verbindlichen Aktionsplan für die Gleichstellung und die Weiterentwicklung der demokratischen Rechte in der Schweiz beschliesst.

Das Jubiläum ist also Anlass für Reflexionen und Auftakt für weitergehende Entwicklungen im Bereich der politischen Teilhabe. Unsere Demokratie hat noch Raum für Vertiefung, Erweiterung, Präzision. So macht ein Jubiläum Freude und Sinn.


Für die Redaktion:
Michelle Cottier, Alexandre Fraikin, Sandra Hotz, Manuela Hugentobler, Nils Kapferer, Zita Küng (Editorial), Meret Lüdi (verantwortliche Redaktorin) und Rosemarie Weibel