Newsletter FRI 2025#4 - Editorial
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Im Rahmen der Umsetzung der parlamentarischen Initiative 21.449 «Bei gemeinsamer elterlicher Sorge die alternierende Obhut fördern» verabschiedete die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates in ihrer Sitzung vom 23. Mai 2025 einen Vorentwurf zur Änderung von Art. 298 Abs. 2ter und 298b Abs. 3ter des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB; SR 210). Sein erklärtes Ziel bestand darin, «eine möglichst gleichmässige Beteiligung an der Betreuung des Kindes zu fördern, wenn die Eltern die elterliche Sorge gemeinsam ausüben und es ihnen nicht gelingt, sich auf ein Betreuungsmodell zu einigen»[1].
Gemäss den geltenden Bestimmungen, deren Änderung vorgesehen ist, «prüft» die zuständige Behörde im Falle der gemeinsamen elterlichen Sorge die Möglichkeit einer alternierenden Obhut, wenn ein Elternteil oder das Kind es verlangt. Diese Behörde muss ihre Entscheidung im Sinne des Kindeswohls treffen. Der Vorentwurf enthält eine Änderung dieser Regel mit zwei Varianten, die insbesondere Folgendes vorsehen: Die erste Variante würde hinzufügen, dass die zuständige Behörde im Rahmen ihrer auf Antrag eines Elternteils oder des betroffenen Kindes erfolgenden Prüfung der alternierenden Obhut – zu gleichen Teilen oder in einem anderen Verhältnis (Erläuternder Bericht, S. 18) – «den Vorzug [gibt]», wenn dies dem Kindeswohl am besten entspricht. Die zweite Variante würde die zuständige Behörde verpflichten, auch ohne entsprechenden Antrag die Möglichkeit einer Betreuung des Kindes «zu gleichen Teilen» zu prüfen und davon nur abzuweichen, wenn dies dem Kindeswohl am besten entspricht.
Dieser Vorentwurf war Gegenstand einer umfassenden Vernehmlassung, in dessen Verlauf sich unter Fachleuten für Familienfragen, Familienrecht, Gleichstellung und Kinderrechte ein breiter Konsens darüber abzeichnete, dass der Entwurf in seiner derzeitigen Form und in seinen beiden Varianten nicht dem erklärten Ziel entspricht.
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchten wir auf die Stellungnahmen der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen, des Lehrstuhls für Familienrecht der Universität Neuenburg, der Schweizerischen Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten, des Vereins Demokratische Jurist*innen Schweiz, des Vereins Kinderanwaltschaft Schweiz, der Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz, des Netzwerks Kinderrechte Schweiz und der Stiftung KidsToo hinweisen.
Ausgehend von diesen reichhaltigen interdisziplinären und kollektiven Überlegungen möchten wir vier übergreifende Dimensionen hervorheben.
Aufteilung der Kinderbetreuung
Derzeit basiert das Schweizer Familienmodell nach wie vor darauf, dass die Kinder hauptsächlich von den Müttern betreut werden, die während des Zusammenlebens ihre Erwerbstätigkeit reduzieren oder ganz aufgeben[2]. Diese Situation wirkt sich auf die Regelungen nach Trennung und Scheidung aus, bei denen Mütter häufiger einen grösseren Teil der Betreuung übernehmen. Wir möchten betonen, dass eine gleichberechtigte Betreuung sich nicht auf das Wechselmodell beschränkt, sondern die Aufteilung aller Aufgaben im Zusammenhang mit dem Kind umfasst, einschliesslich der unsichtbaren Aufgaben, ohne die finanzielle Situation einer Partei gegenüber der anderen zu benachteiligen. Die vorgeschlagene Änderung des Zivilgesetzbuches trägt nicht zu einer gleichberechtigteren Aufteilung der Kinderbetreuung nach einer Trennung oder Scheidung bei und könnte sogar bereits bestehende Ungleichheiten verstärken.
Unterhaltsbeiträge
Die Frage der Unterhaltsbeiträge wird nicht behandelt, obwohl der Bundesrat betont hat, dass deren Höhe von der Aufteilung der Obhut abhängt. Die finanzielle Ungleichheit zwischen den Eltern wird durch die «zweistufig-konkrete Methode» des Bundesgerichts (BGE 147 III 265 E. 6.6) noch verstärkt, weil sie unbezahlte Aufgaben, d.h. Care-Aufgaben, nicht sichtbar macht. Die Methode enthält nämlich keinen Mechanismus zur Berücksichtigung der Zubereitung von Mahlzeiten (die nicht anfällt, wenn das Kind in einer ausserschulischen Einrichtung betreut wird), der schulischen und medizinischen Betreuung, des Transports der Kinder zu ihren ausserschulischen Aktivitäten usw. Sobald die Betreuungszeit 30 % erreicht (z. B. jedes zweite Wochenende und einen Abend pro Woche), kann ausserdem der Unterhaltsbeitrag an den anderen Elternteil stark reduziert werden, ohne dass die Kosten für das Kind für den Elternteil mit 70 % Betreuungsanteil (meistens die Mutter) proportional sinken (Kippschalter-Effekt[3]). In seiner aktuellen Form erhöht der Vorentwurf das Armutsrisiko, da er keine Garantie für den wirtschaftlich schwächeren Elternteil vorsieht, dessen berufliche Perspektiven durch seine Investition in die Kinderbetreuung beeinträchtigt werden[4].
Kindeswohl und Mitwirkung
Die Annahme, dass die alternierende Obhut immer das Kindeswohl dient, ist Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher und juristischer Diskussionen[5]. Unabhängig vom Betreuungsmodell müssen zahlreiche Voraussetzungen erfüllt werden, um das Kindeswohl zu gewähren. Eine gesetzliche Bevorzugung eines bestimmten Betreuungsmodells widerspricht daher dem in Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes verankerten Grundsatz, wonach das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen ist: Es muss immer von Fall zu Fall geprüft werden, welche Lösung für das betreffende Kind am besten geeignet ist, wie es das geltende Recht vorsieht. Ausserdem werden die Mitwirkungsrechte der Kinder in diesem Vorentwurf nicht gestärkt, was eine echte verpasste Gelegenheit ist.
Partnerschaftliche Gewalt
Der Vorentwurf sieht vor, diese Art der Betreuung auch bei Uneinigkeit der Eltern zu fördern, obwohl eine gleichmässige Aufteilung nach wie vor äusserst anspruchsvoll ist. Die Auferlegung eines solchen Modells birgt die Gefahr, Konflikte zu verschärfen und partnerschaftliche Gewalt zu verschleiern, die nach einer Trennung oft weiterbesteht oder sich sogar verschlimmert, da das Kind zu einem Mittel der Zwangskontrolle wird[6]. Theoretisch ist die alternierende Obhut bei häuslicher Gewalt zwar ausgeschlossen, doch zeigt die Praxis, dass deren Aufdeckung nach wie vor schwierig ist. Das geltende Recht ermöglicht bereits eine ausgewogene Beteiligung beider Elternteile nach einer Trennung oder Scheidung, wenn dies dem Kindeswohl entspricht, und eine individuelle Beurteilung bleibt die beste Garantie für das Kindeswohl.
Schlussbemerkungen
Diese Herausforderungen zeigen, dass dieser Vorentwurf schwerwiegende Probleme hinsichtlich der Grundrechte aufwirft, die sowohl im Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) als auch im Übereinkommen über die Rechte des Kindes (KRK) und in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verankert sind.
Die Schlussfolgerung ist eindeutig: Diese Gesetzesreform ist nicht notwendig und wäre, wie wir gerade dargelegt haben, in vielerlei Hinsicht sogar schädlich.
Wir möchten noch darauf hinweisen, dass die Daten zur Praxis der Gerichte in Sorgerechtsfragen trotz des BASS-Berichts[7] nach wie vor lückenhaft sind, um die Debatte zu untermauern.
Vor diesem Hintergrund ist anzumerken, dass die starke Unterstützung bestimmter Väterverbände für die Initiative und den Vorentwurf Fragen hinsichtlich der tatsächlich auf dem Spiel stehenden Interessen aufwirft und eine Diskrepanz in der Vorgehensweise bei der Behandlung dieser Problematik offenbart. Tatsächlich wird Gleichstellung bereits vor der Trennung und Scheidung aufgebaut und vor allem durch eine fortschrittliche Familienpolitik im Dienste von Familien und Kindern verteidigt.
Wir bekräftigen unseren Willen, eine Gesellschaft zu fördern, in der Frauen und Männer bei der Kinderbetreuung wirklich gleichberechtigt sind. Um dieses Ziel zu erreichen, fordern wir konkrete Änderungen des Zivilgesetzbuches, die sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen und die Lebensrealität von Familien berücksichtigen.
Gaëlle Aeby & Sabrina Burgat sowie die Redaktion: Alexandre Fraikin (verantwortlicher Redaktor), Sandra Hotz, Manuela Hugentobler, Nils Kapferer und Rosemarie Weibel, unter Mitarbeit von Rebecca Rohm
[1] Auszug aus dem Einladungsschreiben zur Vernehmlassung vom 24. Juni 2025 der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats.
[2] Le Goff, J.-M., & Levy, R. (Hrsg.) (2016). Devenir parents, devenir inégaux: Transition à la parentalité et inégalités de genre. Seismo; Levy, R., & Widmer, E. D. (Hrsg.) (2013). Gendered life courses between standardization and individualization. A European approach applied to Switzerland. LIT Verlag; Office fédéral de la statistique. (2021). Familien in der Schweiz. Statistischer Bericht 2021.
[3] Burgat, S. (2025). La répartition de l’excédent lors du calcul des contributions d’entretien et la prise en compte du travail de care; analyse de l’arrêt du Tribunal fédéral 5A_636/2023, Newsletter droitmatrimonial.ch Mai 2025.
[4] Fluder, R., & Kessler, D. (2025). Le coût des modèles matrimoniaux traditionnels: perte de revenus, pauvreté et protection sociale après le divorce. Social Change in Switzerland, N°41; Fluder, R., Kessler, D., & Schuwey, C. (2024). Scheidung als soziales Risiko. Seismo.; Kessler, D. (2020). Economic Gender Equality and the Decline of Alimony in Switzerland. Journal of Empirical Legal Studies, 17(3), 493– 518.
[5] Cottier, M., Widmer, Eric D, Tornare, S., & Girardin, M. (2017). Interdisziplinäre Studie zur alternierenden Obhut. Bundesamt für Justiz; Bernardi, L., & Mortelmans, D. (Hrsg.). (2021). Shared Physical Custody: Interdisciplinary Insights in Child Custody Arrangements (Vol. 25). Springer International Publishing.
[6] Brown, E. & Mazuy, M. (2022). Les violences conjugales dans un contexte de séparation. Informations sociales, 207(3), 98-105; Romito, P. (2011). Les violences conjugales post-séparation et le devenir des femmes et des enfants. Revue internationale de l'éducation familiale, 29(1), 87-105.
[7] BASS (2023). Evaluation der Gerichtspraxis nach der Revision des Unterhaltsrechts mit Fokus auf die Obhutsregelung. Schlussbericht.