Newsletter Gender Law 2025#2
Willkommen in unserem Newsletter!
Seit drei Jahrzehnten ist das FRI – Schweizerisches Institut für feministische Rechtswissenschaft und Gender Law eine Plattform für Rechtskritik, Reflexion, Austausch und Intervention. Was 1995 als Pionierprojekt begann, hat sich über 30 Jahre hinweg zu einer festen, kritischen Stimme im juristischen Diskurs entwickelt. Wie dieser Weg verlaufen ist, was wir bewegt haben und welche Fragen uns weiterhin beschäftigen, möchten wir in diesem Editorial beleuchten.
Die Initialzündung zur Gründung des FRI kam durch die inspirierende Lektüre eines Buches der norwegischen Rechtsprofessorin Tove Stang Dahl. In den 1970er-Jahren schuf sie an der Universität Oslo eine neue juristische Disziplin – Frauenrecht. Im Herbst 1974 wurde es in Norwegen ein reguläres Prüfungsfach für alle Jurastudent*innen. Was uns an Stang Dahl begeisterte, war nicht nur der Inhalt, sondern ihr tiefgreifender Anspruch. Sie wollte das Recht nicht reparieren, sondern grundsätzlich weiterentwickeln. Ihr zentrales Argument: Das bestehende Recht ist von Männern gemacht, orientiert sich an Männerleben und -realitäten. Sie beschrieb, wie Frauen sich mühsam durch das System arbeiten müssen, um etwa festzustellen, wie finanzielle Ansprüche ihres Kindes aufgefunden werden können. Unbezahlte Sorgearbeit? Kommt im Recht praktisch nicht vor. Auch in der Wirtschaftswissenschaft ist sie unsichtbar. Geschlechtsspezifische Gewalt wird entpolitisiert und individualisiert, statt als strukturelles Problem verstanden. Tove Stang Dahls analytischer Blick hat uns elektrisiert: Wir müssen das Recht anders denken.
Die Idee eines feministischen Rechtsinstituts nahm Gestalt an. Beim nächsten feministischen Juristinnenkongress stellten wir sie in einer Arbeitsgruppe zur Diskussion: Brauchen wir in der Schweiz auch Frauenrecht? Die Resonanz war überwältigend. Es braucht feministische Perspektiven – mit dem Anspruch, nicht nur das Recht, sondern auch die Gesellschaft zu verändern. Wir fanden Mitstreiter*innen und begannen mit konkreten Vorbereitungen. In Biel trafen wir uns zur Gründungsvorbereitung des FRI-Vereins und fragten uns selbstkritisch: Was meinen wir mit «feministisch»? Eine gemeinsame Grundlage war uns wichtig, ohne uns an Unterschieden zu spalten oder in Detailfragen zu verlieren. Wir ermutigten uns, gross zu denken, nicht am Küchentisch anfangen, sondern mit Weitblick planen. So begannen wir, das Projekt sorgfältig aufzubauen, mit dem Ziel, durch den Verein ein unabhängiges, starkes Institut zu schaffen.
Ein Jahr später, am nächsten feministischen Juristinnenkongress, gelang dann ein grosser Schritt. Wir sammelten Mittel für eine Projektleitung und erhielten genug Unterstützung, um das Vorhaben konkret umzusetzen. Von Anfang an war klar: Das FRI muss sich sowohl in der juristischen Ausbildung als auch in der Praxis verankern. Unser Ziel war es, mit dem Recht die Lebensrealität von Frauen zu verändern – nicht nur Gleichstellung zu fordern, sondern Bedingungen für tatsächliche Eigenständigkeit zu schaffen.
2001 kam eine Premiere: die erste umfassende Publikation zur feministischen Rechtswissenschaft in der Schweiz. Sie zeigte auf, welche Themen, Perspektiven und Methoden feministische Jurist*innen verfolgen und legte damit den Grundstein für die zahlreichen Konferenzen und Publikationen, die in den folgenden Jahren entstanden.
Der nächste Schritt war die Errichtung einer Stiftung, um das Institut auch für Grossspender*innen attraktiv zu machen.
Im Jahr 2004 wurden wir von einer bemerkenswerten Frau unterstützt, die das FRI entscheidend mitprägte: Margrith Bigler-Eggenberger. Sie leistete eine grosszügige Spende und trat als Stifterin auf. Als erste Frau am Schweizer Bundesgericht war sie eine Pionierin, die Rechtsgeschichte schrieb (vgl. dazu das Editorial unseres Newsletters 2023#4). Ihre Wahl in dieses Amt war alles andere als selbstverständlich: Ihr Dossier wurde manipuliert, ihre Qualifikationen infrage gestellt. Doch sie setzte sich durch und leistete während ihrer Amtszeit herausragende juristische Arbeit. Unbeirrt und professionell engagierte sie sich insbesondere für die soziale Absicherung von Frauen, unter anderem mit einer wegweisenden Publikation zu diesem Thema. Margrith Bigler-Eggenbergers Vermächtnis ist für das FRI heute aktueller denn je: Die FRI-Stiftung ist ihre Alleinerbin. Damit hat sie uns nicht nur ideell, sondern auch materiell nachhaltig gestärkt. Ihr Mut, ihre Weitsicht und ihr juristisches Können bleiben uns Vorbild und Ansporn zugleich.
Eine weitere zentrale Aktivität des FRI war von Beginn an der freie, kreative Austausch. Der FRI Exchange bildet dabei das Herzstück: ein freier Denkraum, in dem unsere Mitglieder Themen gemeinsam entwickelten – bewusst unvollständig, tastend und im Dialog. Statt fertiger Vorträge bringen die Themengeber*innen Impulse ein, die gemeinsam mit dem Publikum weitergedacht werden. So entstehen neue Einsichten mit Platz für unterschiedliche Perspektiven und Erfahrungswissen.
Neben dem Einfluss auf die akademische Debatte war es dem FRI ein zentrales Anliegen, feministische Rechtskritik auch in der Praxis zu verankern. So machten zwei FRI-Forscherinnen eine Untersuchung zur Teilung der zweiten Säule bei Scheidung und zeigten exemplarisch, wie gesetzliche Regelungen ins Leere laufen, weil Richter*innen und Anwält*innen sie nicht korrekt anwenden. Genau hier setzen wir an: Recht muss überprüfbar, kritisierbar und weiterentwickelbar sein – im Lichte realer Lebensverhältnisse von Frauen. Ebenso kritisch beobachteten wir die sprachliche Neutralisierung im Gewaltbereich. Der Begriff "häusliche Gewalt" verdrängt strukturelle Machtverhältnisse wie Männergewalt oder die konkreten Akteure der Gewalt, ein sprachlicher wie politischer Rückschritt. Im FRI-Panel «Recht als Gewalt – Recht gegen Gewalt» vom SGGF-Kongress von 2019 wurde auch unter Berücksichtigung des Gewaltbegriffs des Übereinkommens des Europarats vom 11. Mai 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul Konvention) untersucht, inwiefern die Umsetzung dieser Konvention in der Schweiz Ausschlüsse bewirkte. Auch zur gemeinsamen elterlichen Sorge machten wir Entwicklungen sichtbar, die an der Lebensrealität vieler Frauen vorbeigehen, oft zulasten ihrer ökonomischen Sicherheit. Dass Lebensrealitäten dem Familienrecht hinterher hinken, wurde auch mit Vorschlägen von Gesetzeslösungen im FRI-Exchange #17 besprochen. Diese Themen diskutieren wir mit Fachpersonen aus Wissenschaft und Praxis, um sie tiefer zu verstehen und Veränderung anzustossen.
Ein roter Faden zieht sich durch all unsere Aktivitäten. Das FRI will Recht neu denken – feministisch, kritisch, praxisnah. Möglich wurde das durch eine kleine, entschlossene Gruppe von Menschen, die mit hohem fachlichem Anspruch und grossem ehrenamtlichem Engagement den Verein tragen. Im Vorstand, den wir Groupe moteur nennen, arbeiten sie mit viel Einsatz und klarer Haltung an Konzepten, Aktivitäten und Visionen für das FRI.
Das FRI feiert sein 30-jähriges Jubiläum gemeinsam mit zwei weiteren bedeutenden Meilensteinen: der Verabschiedung des Gleichstellungsgesetzes in der Schweiz und der UN-Frauenkonferenz in Beijing, beide ebenfalls vor 30 Jahren. Das Gleichstellungsgesetz markierte einen wichtigen Schritt zur rechtlichen Absicherung von Chancengleichheit (für einen Überblick über die Rechtsprechung der letzten Jahre auf Bundesebene zu diesem Gesetz, vgl. unsere Newsletters 2021#1, 2023#1, 2024#1 und 2025#1), während in Beijing feministische Anliegen erstmals global sichtbar und politisch verbindlich gemacht wurden (vgl. aber die kritische Stellungnahme der NGO-Koordination post Beijing Schweiz zum Bericht des Bundesrats Beijing + 30 in unserem Newsletter 2024#3). Doch viele dieser Errungenschaften stehen heute wieder zur Disposition. Die Re-Traditionalisierung von Geschlechterverhältnissen, beispielweise im Familienrecht, ist besorgniserregend. Diskussionen über Individualbesteuerung erscheinen fast revolutionär, obwohl sie grundlegende Gleichstellungsfragen berühren. Der mangelnde politische Wille, in ausserfamiliäre Kinderbetreuung zu investieren, offenbart eine beunruhigende Rückkehr zu alten Mustern. Auch beim Schwangerschaftsabbruch bleiben wir wachsam. Die Fristenlösung war ein Erfolg, doch sie ist nicht gesichert. Immer wieder gibt es Spitäler, in den sich medizinisches Personal weigert, den Eingriff vorzunehmen. Zugleich nehmen Angriffe auf die Menschenrechte von Minderheiten, queeren Menschen und Frauen weltweit zu (vgl. z.B. vier in diesem Newsletter zusammengefasste Urteile des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte). Antifeministische und anti-queere Diskurse erstarken nicht nur in autoritären Regimen, sondern auch in demokratischen Gesellschaften. Rechte Bewegungen diffamieren Gleichstellungspolitik als «Gender-Ideologie» und machen gezielt Stimmung gegen queere Menschen. In diesem Klima geraten hart erkämpfte Freiheiten erneut unter Druck und es wird deutlich: die feministische Praxis bleibt nicht nur notwendig, sondern hochaktuell.
Gerade deshalb ist das FRI heute wichtiger denn je. Wir sind entschlossen, diesen Ort des feministischen juristischen Denkens weiter auszubauen. Im kommenden Jahr stehen grosse Veränderungen an. Wir schufen eine neue Geschäftsführungsstelle, erweitern gerade unser Team und entwickeln unsere Organisationsstruktur weiter. Mit neuen Aktivitäten, neuen Stimmen und klaren Zielen wollen wir das Institut realisieren, das wir uns vor 30 Jahren erträumt haben.
Unsere 30-Jahr-Feier soll nicht nur ein Anlass zur Erinnerung, sondern auch ein Moment der Erneuerung sein. Ein feministisches Jubiläum, das Mut macht – zum Weitermachen, zum Streiten, zum Träumen. Wir danken allen, die diesen Weg mitgetragen und mitgestaltet haben und laden ein, dieses besondere Jubiläum mit uns zu feiern.
Für die Redaktion: Zita Küng (Gründerin und Präsidentin der FRI-Stiftung; Editorial), Lydia Walter (Geschäftsführerin des FRI; Editorial), Alexandre Fraikin (verantwortlicher Redaktor), Sandra Hotz, Manuela Hugentobler, Nils Kapferer und Rosemarie Weibel, unter der Mitarbeit von Rebecca Rohm