Verletzungen der Menschenrechte von LGBTQIA*-Personen

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Gender Law Newsletter FRI 2025#2, 01.06.2025 - Newsletter abonnieren

EUROPA: MENSCHENRECHTE (GASTBEITRAG)

Gastbeitrag von Rebecca ROHM

Urteil des EGMR vom 4. Februar 2025, Klimova und andere gegen Russland (Beschwerden Nr. 33421/16 u.a.)
Urteil des EGMR vom 4. Februar 2025, Bazhenov u.a. gegen Russland (Beschwerden Nr. 8825/22 und 19130/22)
Urteil des EGMR vom 13. Februar 2025, P. gegen Polen (Beschwerde Nr. 56310/15)
Urteil des EGMR vom 4. März 2025, Milashina u.a. gegen Russland (Beschwerde Nr. 75000/17)
 
Der EGMR hat in letzter Zeit vier Fälle entschieden, die alle diskriminierende Auswüchse des rechtskonservativen gesellschaftlichen Backlashes betreffen.

Im Fall Klimova u.a. gegen Russland sahen sich Betreiber*innen von Websites und queere Gruppen in sozialen Netzwerken Bußgeldern und Sperrungen ausgesetzt. Betroffen war unter anderem die Website www.gay.ru, die seit den 1990er Jahren aktiv und eine der wichtigsten Websites für Information, Aufklärung, Meinungsäußerung und Vernetzung der queeren Szene ist. In einem Umfeld, in dem das offene Ausleben der eigenen Identität die Gefahr von Diskriminierung und Gewalt birgt, ist eine aktive Online-Community ein wichtiger Faktor gegen Isolation. Betroffen von der Sperrung war auch ein Hilfsangebot für queere Kinder und Jugendliche, die sich neben der eigenen Identitätskrise auch gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt sehen. Weiterhin wurden die persönlichen Daten einer auf sozialen Medien präsenten Aktivistin durch den Geheimdienst ausgespäht.

Die Bußgelder wurden mit dem Schutz von Kindern begründet. In Russland ist es verboten, „nichttraditionelle sexuelle Beziehungen zwischen Minderjährigen zu fördern“. Der EGMR stellte jedoch fest, dass die Angebote von der Meinungsfreiheit gedeckt seien. Dem Kinder- und Jugendschutz wurde insofern Rechnung getragen, als dass explizite Websites und die Partner*innen-Börse mit den üblichen Mechanismen zur Altersbeschränkung versehen waren. Die Maßnahmen Russlands verstoßen damit gegen Art. 10 EMRK und im Fall der Aktivistin auch gegen Art. 8 EMRK. Die diskriminierende Gesetzgebung und Praxis ist Teil eines weltweiten rechtskonservativen Trends. Als Begründung wird häufig der Kinderschutz angeführt, was dem verschwörungstheoretischen Bild von Homosexualität als pervers und pädophil entspricht. Gleichzeitig wird das eigene Weltbild in „normal und abnormal“ unterteilt und die Existenz von queerem Leben geleugnet. So wurde mit einer der Websites auch ein umfangreiches historisches Archiv zu queerem Leben in Russland unsichtbar gemacht.

Am selben Tag entschied der Gerichtshof auch im Fall Bazhenov u.a. ebenfalls gegen Russland (Nr. 8825/22 und 19139/22). In beiden Fällen ging es um die Veröffentlichung personenbezogener Daten im sozialen Netzwerk VKontakte, die aufgrund der Homosexualität der Betroffenen zu Hass und Gewaltaufrufen führte. Bei zwei Ladenbesitzern wurden neben dem vollständigen Namen auch ein Foto und die Adresse des Geschäfts veröffentlicht. Ein reichweitenstarker Account namens „gay basher“ verbreitete die Daten weiter, so dass sich die Betroffenen einem Bedrohungsszenario ausgesetzt sahen. Der zweite Fall betraf einen Rechtsanwalt, dessen Daten auf einer Liste mit dem Titel „Adressliste von LGBT-Aktivisten, Pädophilen und anderen LGBT-Perversen“ veröffentlicht wurden. In beiden Fällen wurden auf die Strafanzeige hin keine polizeilichen Ermittlungen eingeleitet. Anfragen an das soziale Netzwerk blieben unbeantwortet, weitere Bemühungen wurden nicht unternommen. Erst nachdem der Anwalt mit seinem Ehemann aus Russland geflohen war, wurden die Ermittlungen nach einer Beschwerde intern als unzureichend eingestuft. Der Gerichtshof sah darin eine Verletzung der staatlichen Schutzpflicht gegenüber den Beschwerdeführenden als Mitglieder der besonders schutzbedürftigen LGBTI-Gemeinschaft und somit eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung im Sinn von Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 8 EMRK. Danach hätte Russland die Beschwerdeführer vor der Veröffentlichung ihrer persönlichen Daten aus offensichtlich homophoben Gründen schützen müssen.

Schließlich befasste sich der Gerichtshof mit einem weiteren Fall aus Russland (Urteil vom 4. März 2025, Milashina gegen Russland, Nr. 75000/17). Die Enthüllungsjournalistin Milashina sowie zwei weitere Mitarbeiter des Redaktions- und Verlagshauses Novaya Gazeta erhielten Morddrohungen, nachdem sie über eine groß angelegte gewalttätige Hetzkampagne der tschetschenischen Behörden gegen Homosexuelle recherchiert hatten. Die Drohungen und Gewaltaufrufe stammten von Staatsbeamten (u.a. dem tschetschenischen Präsidenten Kadyrow) und einflussreichen Religionsführern. Indem die russischen Behörden keine oder nur unzureichende strafrechtliche Ermittlungen gegen die namentlich bekannten Täter durchführten, duldeten sie die Gewaltaufrufe und verletzten damit ihre Schutzpflicht aus Art. 8 EMRK. Dass die Drohungen auch in die Tat umgesetzt wurden, zeigte sich im Juli 2023, als Milashina auf dem Weg zu einem Gerichtsverfahren, über das sie berichten wollte, entführt und brutal misshandelt wurde.

Am 16. September 2022 ist der Austritt Russlands aus der EMRK wirksam geworden. Ab diesem Zeitpunkt ist die Konvention daher auf Russland nicht mehr anwendbar. Die entschiedenen Fälle stammen jedoch aus einem Zeitraum, für den noch eine Zuständigkeit des EGMR besteht. Es ist jedoch fraglich, ob und inwieweit Russland die Urteile beachtet und umsetzt. Die Umsetzung der Urteile des EGMR wird vom Ministerkomitee überwacht, Art. 46 Abs. 2 Hs. 2 EMRK. Ein Zwangsmechanismus besteht nicht, vielmehr erfolgt die Umsetzung vor dem Hintergrund politischen und diplomatischen Drucks innerhalb der Mitgliedstaaten des Europarates. Russland dürfte sich dem jedenfalls nicht mehr verpflichtet fühlen.

Dennoch haben die Urteile eine wichtige Signalwirkung für andere Mitgliedsstaaten. Denn auch andere Staaten, wie z.B. Polen und Ungarn, haben dem queeren Leben schon vor einigen Jahren den Kampf angesagt. Erinnert sei nur an die „LGBT-ideologiefreien Zonen“ in Polen. Das Urteil im Fall P betrifft einen polnischen Oberstufen-Lehrer, der aus dem Schuldienst entfernt wurde (Urteil vom 13. Februar 2025, P gegen Polen, Nr. 56310/15). Ihm wurde im Disziplinarverfahren vorgeworfen, die „Würde des Lehrerberufs“ verletzt zu haben, weil er einen tagebuchartigen Blog mit teilweise erotischem Inhalt geführt hatte. Dieser war zwar anonym, aber auf seine Person bezogen. Der Lehrer zeigte sich im Laufe des Verfahrens einsichtig, löschte den Blog und entschuldigte sich. Der Gerichtshof entschied, dass die Entfernung aus dem Schuldienst einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Meinungsfreiheit darstelle. Dabei stellte der EGMR fest, dass es in Europa keine einheitlichen Moralvorstellungen gebe, wohl auch um dem Vorwurf zu begegnen, er wolle Ländern wie Polen liberale, homosexuellenfreundliche Werte aufzwingen. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung hielt das Gericht dem Lehrer zugute, dass der Blog die übliche Altersbeschränkung enthielt, d.h. dass man aktiv bestätigen musste, über 18 Jahre alt zu sein, und dass er den Schüler*innen seine Ansichten und seine Sexualität nicht aufdrängte. Eine strengere Beurteilung wäre allenfalls denkbar, wenn es sich um einen Religions- oder Ethiklehrer handeln würde, was hier jedoch nicht der Fall war.

Im Gegensatz zu den Urteilen gegen Russland wurde das Urteil nicht einstimmig gefällt. Die Richter*innen aus Polen, Ungarn und der Slowakei waren in ihrem Sondervotum der Ansicht, dass die Schüler*innen und generell Minderjährige mangels eines effektiven Mechanismus zur Altersbeschränkung nicht effektiv vor den teils „sehr vulgären Inhalten“ des Blogs geschützt seien. Insofern sei die negative Religions- und Weltanschauungsfreiheit der Schüler*innen beeinträchtigt, was die Sanktion gegen den Lehrer rechtfertige. Das Sondervotum schließt mit der Feststellung, dass viele Eltern in ganz Europa durch die Entscheidung zu Recht beunruhigt seien.

Eine Zusammenfassung zur bisherigen Rechtsprechung des EGMR in Fällen von LGBTQIA*-Personen gibt es im Guide on the case-law of the European Convention on Human Rights - Rights of LGBTI persons, Stand August 2024, der im Internet frei verfügbar ist.

Zugang zum Urteil des EGMR vom 4. Februar 2025, Klimova und andere gegen Russland (Beschwerden Nr. 33421/16 u.a.; https://hudoc.echr.coe.int)
Zugang zum Urteil des EGMR vom 4. Februar 2025, Bazhenov u.a. gegen Russland (Beschwerden Nr. 8825/22 und 19130/22; https://hudoc.echr.coe.int)
Zugang zum Urteil des EGMR vom 13. Februar 2025, P. gegen Polen (Beschwerde Nr. 56310/15; https://hudoc.echr.coe.int)
Zugang zum Urteil des EGMR vom 4. März 2025, Milashina u.a. gegen Russland (Beschwerde Nr. 75000/17; https://hudoc.echr.coe.int)