Nur ein Ja ist ein Ja – Kampagne zur Änderung des Sexualstrafrechts und Vorstösse im Parlament

SCHWEIZ: PARLAMENTARISCHE VORSTÖSSE AUF BUNDESEBENE UND KAMPAGNE VON AMNESTY INTERNATIONAL

Amnesty – Magazin der Menschenrechte – Juni-Ausgabe 2019
Mit dem Slogan «Nur ein Ja ist ein Ja» lancierte Amnesty International im Mai ihre grosse Kampagne gegen sexuelle Gewalt und für eine Änderung im Strafgesetzbuch.

«Die bisherige Gesetzgebung der Schweiz geht nämlich immer noch davon aus, dass es sich nur dann um Vergewaltigung handelt, wenn das Opfer in der einen oder andern Form zum Beischlaf genötigt wurde. Ein Nein der Frau – nach aktuellem Gesetz können nur Frauen vergewaltigt werden – reicht nicht aus, damit es zu einer Verurteilung wegen Vergewaltigung kommt.»
Die Juni-Ausgabe enthält Artikel zur Notwendigkeit eines grundsätzlichen Umdenken; zur Afurechterhaltung des Patriarachats mittels sexueller Gewalt, zum schwierigen Gang vor Gericht, zum Cyberstalkin sowie zum Frauenhandel.

Mit der Präsentation der Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage zur Thematik „Sexuelle Gewalt gegen Frauen“ hat Amnesty International Ende Mai die Kampagne „Gemeinsam gegen sexuelle Gewalt“ lanciert. Die Umfrage zeigte nicht nur die erhebliche  Betroffenheit von Frauen durch sexuelle Gewalt, sondern auch die sehr tiefen Anzeigequoten und damit die faktische Straflosigkeit von sexuellen Übergriffen auf. Mit der Kampagne will Amnesty International nicht nur die Bevölkerung für das „consent“-Prinzip sensibilisieren, sondern auch konkrete Reformvorschläge u.a. im Sexualstrafrecht aufs politische Parkett bringen. 
Im Vordergrund steht dabei die Kritik am aktuellen Vergewaltigungstatbestand, der als Nötigungsdelikt konzipiert ist. Mit Blick auf bundesgerichtliche Urteile wie 6B_912/2009 vom 22.02.2010  6B_311/2011 vom 19.07.2011 wird ersichtlich, dass Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung bzw. sogar gegen den ausdrücklichen Willen des Opfers nur dann als Vergewaltigung bestraft werden kann, wenn der Täter zusätzlich ein Nötigungsmittel anwendet. Fehlt dieses, ist i.d.R. keine Verurteilung wegen eines Verbrechens oder Vergehens möglich. Diese Rechtslage hat zur Folge, dass die Schweiz die völkerrechtlichen Vorgaben aus der EMRK (insbesondere EGMR-Urteil M.C. gegen Bulgarien vom 04.12.2003 – 39272/98) und aus Art. 36 des kürzlich ratifizierten Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention), wonach alle nicht-einverständlichen sexuellen Handlungen angemessen zu bestrafen sind, nur unzureichend umsetzt. In diversen europäischen Staaten wurde in den letzten Jahren das Sexualstrafrecht reformiert und die jeweiligen Vergewaltigungstatbestände mit sog. „Nein heisst Nein“- oder „Nur-Ja-heisst-Ja“-Gesetzen ersetzt oder zumindest ergänzt. Die Forderung nach einer Reform des Sexualstrafrechts steht damit im Einklang mit einer gesamteuropäischen Entwicklung in diesem Bereich und geniesst breite Unterstützung – nicht zuletzt von einem Grossteil der Schweizer StrafrechtsprofessorInnen.
Im Nachgang haben im Juni Parlamentarierinnen aus praktisch dem gesamten politischen Spektrum sechs Interpellationen zur Thematik eingereicht. Von besonderer Bedeutung sind hierbei die Interpellationen 19.3585 „Schockierendes Ausmass sexueller Gewalt gegen Frauen: Es ist Zeit zu handeln!“ von Sibel Arslan sowie 19.3587 „Violences sexuelles: nouvelle définition du viol“ von Isabelle Moret. Letztere bezieht sich u.a. auf die im Vorjahr eingereichte Interpellation von Martina Munz 18.3889 „Reformbedarf im Sexualstrafrecht und Anpassungen an die Istanbuler Konvention“, bei deren Beantwortung der Bundesrat erklärte, er sehe „zurzeit keinen Anlass, die Schaffung eines neuen Grundtatbestands zu sexuellen Handlungen gegen den Willen eines Opfers zu prüfen“.  Die Interpellantin Moretfragt nun konkret, ob der Bundesrat gedenke, diese Position angesichts der schockierenden Zahlen über das Ausmass sexueller Gewalt und deren Straflosigkeit zu überdenken. Eine Antwort des Bundesrates steht noch aus. 
Im Juni haben die Strafrechtlerinnen Anna Coninx und Nora Scheidegger zuhanden mehrerer interessierter ParlamentarierInnen eine Auslegeordnung erstellt, welche die verschiedenen Möglichkeiten aufzeigt, wie ein zeitgemässes Sexualstrafrecht aussehen könnte. Die aktuell mit der Frage befasste Subkommission des Ständerates, bestehend aus Daniel Jositsch (SP), Andrea Caroni (FDP) und Beat Rieder (CVP), ist gemäss  Medienberichten in der Frage gespalten.

Anschliessend haben verschiedene Parlamentarierinnen aus mehreren Parteien koordinierte Vorstösse im Nationalrat eingereicht, die eine verbesserte Datengrundlage zum Thema und Änderungen des StGBs und des OHGs ins Auge fassen. 
Interpellation Bertschy (19.3584) Sexuelle Gewalt gegen Frauen: Warum fehlen verlässliche Zahlen des Bundes?
Interpellation Arslan (19.3585) Schockierendes Ausmass sexueller Gewalt gegen Frauen: Es ist Zeit zu handeln!
Interpellation Meyer (19.3586) Sexuelle Gewalt gegen Frauen: Viele Betroffene erfahren keine Gerechtigkeit
Interpellation Moret (19.3587
Violences sexuelles: nouvelle définition du viol
Interpellation Bulliard-Marbach (19.3588) Sexuelle Gewalt gegen Frauen: Es braucht mehr Prävention
Interpellation Quadranti (19.3589)
Genugtuung für Opfer sexueller Gewalt
Direkt zur Kampagne (amnesty.ch)
Accès direct à la campagne 
Accesso diretto alla campagna in italiano