Justitias Dresscode: Richter*innen mit Kopftuch – Neutralität oder Intersektionalität?

SCHWEIZ, DEUTSCHLAND: RELIGIÖSE NEUTRALITÄT AM GERICHT

2019

Das Bundesgericht entschied in seinem Urteil 2C_546/2018 vom 11. März 2019, dass eine Anpassung des Personalreglements der Gerichte des Kantons Basel-Stadt, die Gerichtspersonen das Tragen religiöser Verbote bei Verhandlungen untersagte, einen zulässigen Eingriff in die Glaubens- und Gewissensfreiheit nach Art. 15 BV darstellt. Bereits am 22. Mai 2018 war ein Bericht des Center for Intersectional Justice erschienen, dessen Lektüre dem Bundesgericht eine differenziertere Urteilsfindung ermöglicht hätte.
Das Center for Intersectional Justice ist eine unabhängige, gemeinnützige Organisation mit Sitz in Berlin, die sich der Förderung von Gleichheit und Gerechtigkeit für alle durch die Bekämpfung sich überschneidender Formen struktureller Ungleichheit und Diskriminierung in Europa verschrieben hat. Susann Aboueldahab führt im CIJ-Bericht zum Thema differenziert aus, dass es für eine diskriminierungsfreie Justiz mehr braucht als staatliche Neutralität und richterliche Unabhängigkeit. Die Autorin stellt zunächst fest, dass die vermeintlich neutralen Rechtsgrundlagen zwar allgemein religiöse  Symbole verbieten, implizit damit aber immer das Kopftuch gemeint ist – genauso wie im Fall der Basler Gerichte, wo die Bewerbung einer kopftuchtragenden Volontärin Anstoss für eine Reglementsänderung war. Aus dieser Perspektive wird schliesslich deutlich, inwiefern richterliche Unabhängigkeit und staatliche Neutralität ein Instrument darstellen, um marginalisierte Lebensformen als parteiisch, als eben nicht-objektiv zu werten und z.B. muslimische Frauen mit dem Richteramt als unvereinbar zu setzen, und wie hier verschieden Diskriminierungsrichtungen zusammenwirken und wie rassistische, sexistische und muslimfeindliche Strukturen bestehendes Recht prägen. Die Kürze des Bundesgerichtsentscheids und der Verzicht, einschlägige Literatur beizuziehen, hinterlässt den Eindruck einer unzulänglichen Auseinandersetzung mit der Problematik. Schliesslich wusste Regina Kiener schon 2001: «Das Wissen um den weltanschaulich-ideologischen Hintergrund dient der Transparenz und stellt letztlich gar die richterliche Unabhängigkeit sicher. (…) sie selber, die anderen Richter und in der Regel auch die Parteien wissen um diese Bindung, und eben weil alle es wissen, werden die Betroffenen darauf achten, sich keine Blösse zu geben und bei ihrem Entscheid von diesen Bindungen zu abstrahieren» (Regina Kiener, Richterliche Unabhängigkeit, Verfassungsrechtliche Anforderungen an Richter und Gerichte, Habil. Bern, Bern 2001 S. 188?f.)
Direkt zum Bericht des CIJ (intersectionaljustice.org)
Direkt zum Urteil des Bundesgerichts (bger.ch)