Reformbedarf im Sexualstrafrecht

SCHWEIZ: SEXUALSTRAFRECHT

2020

Nora SCHEIDEGGER / Agota LAVOYER / Tamara STALDER «Anzeige von Reformbedarf im schweizerischen Sexualstrafrecht», in: sui-generis 2020, S. 57-75.

Gastbeitrag von Tamara STALDER

Sie spaltet die Gemüter von rechts bis links und von Fachkreisen bis an den Familientisch: Die bevorstehende Reform des Sexualstrafrechts. Ursprünglich war die Einführung des Konsensprinzips nicht angedacht, aufgrund des politischen Drucks seitens Frauenrechtsorganisationen und Kritik aus der Lehre, steht dies nun doch zur Debatte. Die häufigsten Argumente der Gegner_innen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Das Übergehen eines Neins werde heute bereits strafrechtlich erfasst; die Fälle, in denen bei einer Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung kein Nötigungsmittel angewendet werden würde, seien äusserst selten; zwei Bundesgerichtsentscheide würden keine Gesetzesänderung rechtfertigen - das Problem sei kaum praxisrelevant; es komme zu einer faktischen Umkehr der Beweislast. Dem stellen wir eine Analyse von diversen, innerhalb kürzester Zeit zusammengetragenen Einstellungsverfügungen und Freisprüchen entgegen. Auch wenn die Untersuchung nicht repräsentativ ist, zeigt sie anhand von fünf Fallbeispielen doch folgendes auf: Es gibt Fälle, in welchen der Wille des Opfers übergangen wird, die Täterschaft aber kein Nötigungsmittel anwenden muss und damit nicht wegen sexueller Nötigung (Art. 189 StGB) oder Vergewaltigung (Art. 190 StGB) verurteilt werden kann und die Subsumierung unter den „Auffangtatbestand“ der sexuellen Belästigung (Art. 198 StGB) nicht sachgerecht erscheint – und damit Hürden der Strafverfolgung im materiellen Recht bestehen. Zudem widerspiegelt die heutige Rechtslage, was schon bei der letzten Sexualstrafrechtsreform kritisiert wurde: Ein Opfer sexualisierter Gewalt muss sich wehren, sonst liegt juristisch weder eine sexuelle Nötigung noch eine Vergewaltigung vor. Doch ist diese Ansicht in Zeiten der Istanbul-Konvention noch gesetzlich vertretbar? Wir finden nicht und machen im Anschluss an die Ergebnisse auf mögliche Reformvorschläge aufmerksam und hoffen mit der Analyse einen wesentlichen Beitrag zur noch bevorstehenden politischen Diskussion beisteuern zu können.
 
Direkter Zugang zum Artikel (sui.generis.ch)