Strafrechtlicher Rechtsschutz des Anspruchs auf Entschädigung für eine sexuelle Leistung

SCHWEIZ: STRAFRECHT

Bundesgericht, 8. Januar 2021 (6B_572/2020, zur Publikation vorgesehen)
Das Bundesgericht anerkennt in diesem Urteil, dass einer zwischen erwachsenen Personen vereinbarten und selbstbestimmt erbrachten sexuellen Dienstleistung ein Vermögenswert zukommt, so dass Sexarbeiter*innen gegen Betrug strafrechtlich geschützt sind

In diesem Urteil hat das Bundesgericht die Beschwerde in Strafsachen einer Person abgewiesen, die wegen Betrug verurteilt worden war. Diese Person, Herr. A, war durch ein Inserat mit Frau B über Telefon und E-Mails unter einem falschen Namen in Kontakt getreten. Er hatte ihr CHF 2000 angeboten, um mit ihr eine Nacht zu verbringen und Sex zu haben. Sie hatte das Angebot angenommen. Herr A hatte Frau B versichert, sie nach dem Geschlechtsverkehr oder am nächsten Tag zu bezahlen. Nach dem Geschlechtsverkehr nutzte Herr A den Schlaf von Frau B aus, um alle ihre Chat-Verläufe und E-Mails mit ihm und alle Fotos von ihm von ihrem Mobiltelefon zu löschen, ihr CHF 41 zu stehlen und wegzugehen, ohne die Leistung zu bezahlen. Herr A wurde durch das Kreisgericht St. Gallen wegen Betruges, Datenbeschädigung und geringfügigen Diebstahls für schuldig erklärt und zu einer Geldstrafe mit bedingtem Strafvollzug, einer Busse und Schadenersatz im Umfang von CHF 2‘041 verurteilt. In seiner Beschwerde bestritt Herr A das Vorliegen eines Betruges und er verlangte sowohl die Milderung seiner Strafe als auch die vollumfängliche Abweisung der Zivilklage.
Gemäss Art. 146 StGB liegt Betrug vor, wenn jemand «in der Absicht, sich oder einen andern unrechtmässig zu bereichern, jemanden durch Vorspiegelung oder Unterdrückung von Tatsachen arglistig irreführt oder ihn in einem Irrtum arglistig bestärkt und so den Irrenden zu einem Verhalten bestimmt, wodurch dieser sich selbst oder einen andern am Vermögen schädigt». Herr A bestritt das Vorliegen einer Arglist unter anderem mit der Behauptung, dass die Privatklägerin die ihr zumutbaren Vorsichtsmassnahmen missachtet habe. Er argumentierte auch, dass der Vertrag über die entgeltliche Erbringung sexueller Leistungen (hiernach «Sexarbeitsvertrag») sittenwidrig sei, so dass Frau B keinen rechtlich geschützten Anspruch auf Ausgleich des erlittenen Nachteils habe.
Das Bundesgericht erachtet unter anderem aus den folgenden Gründen, dass die Vorinstanz das Bundesrecht nicht verletzt habe, indem sie das Vorliegen einer arglistigen Täuschung festgestellt hatte (E. 4.2). Die Vorspiegelung des Leistungswillens (im vorliegenden Fall die von Herrn A versprochene Zahlung von CHF 2000) sei grundsätzlich arglistig, weil dies eine innere Tatsache betreffe, die die Vertragspartner*in nicht direkt überprüfen könne. Ausgenommen sei der Fall, in dem das Opfer die Erfüllungsfähigkeit des Täuschenden hätte überprüfen können (E. 3.3). Eine solche Überprüfung sei jedoch im vorliegenden Fall gemäss Bundesgericht nicht möglich gewesen (E. 4.1.3 und 4.2). Ausserdem könnten nur Fälle gröbsten Mitverschuldens des Opfers Arglist ausschliessen. Dies sei vorliegend, so das Bundesgericht, nicht der Fall (E. 4.2).
Das Bundesgericht anerkennt aus den folgenden Gründen, dass der Anspruch auf Entschädigung für die erbrachte sexuelle Leistung strafrechtlich schutzwürdig sei (E. 7.2). Das Vermögen, welches bei Betrug beschädigt wird (E. 6.1), kann unter anderem aus «geldwerten Positionen [bestehen], deren Realisierung zivilrechtlich geschützt ist» oder die «Gegenstand eines Rechtsgeschäfts 'Tausch gegen Geld' sein können» (E. 6.2). Sittenwidrige Verträge sind zwar nichtig (Art. 20 Abs. 1 OR); dies betreffe aber nur Rechtsgeschäfte «mit eindeutig schwerwiegenden Verstössen gegen die öffentliche Ordnung oder anerkannte und im Wandel der Zeit beständige Moralvorstellungen» (E. 7.1). Das Bundesgericht zitierte zahlreiche Quellen aus der Lehre, welche die Sittenwidrigkeit eines Sexarbeitsvertrags zwischen erwachsenen Personen ohne kriminelle Begleiterscheinungen verneinen. Es zitiert auch sowohl eine Stellungnahme des Bundesrates vom 16. Mai 2012 zur Interpellation 12.3187 «Privatrechtliche Anerkennung des Prostituiertenlohns» als auch einen Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 11. Januar 2016 über die Standesinitiative des Kantons Berns 12.317 «Prostitution ist nicht sittenwidrig», wonach die Gerichte die Sexarbeit voraussichtlich in Zukunft nicht mehr per se als sittenwidrig betrachten sollen (E. 7.1). Das Bundesgericht hält weiter fest, dass ein Teil der Rechtsordnung die Sexarbeit als Vermögenswert anerkennt (E. 7.2). Das Erwerbseinkommen aus Sexarbeit sei bereits als rechtmässig anerkannt worden und der Verdienstausfall durch Unfall einer Sexarbeiterin als zu ersetzenden Schaden qualifiziert (BGE 111 II 295 E. 2e S. 301). Sexarbeit stelle - ausser in den Fällen von Art. 195 und 199 StGB - eine sozialübliche und zulässige Tätigkeit dar. Der Schutz durch die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV) für diese Tätigkeit sei bereits anerkannt worden (vgl. z.B. BGE 101 Ia 473 S. 746 E. 2b). Sexarbeit unterliege der Einkommenssteuer, der Vermögenssteuer und der AHV-Pflicht (BGE 107 V 193 S. 476). Die aus der Sexarbeit erzielten Einnahmen einer Person ohne Aufenthalts- oder Arbeitsbewilligung dürften nicht eingezogen werden, da die Einkünfte aus einem zivilrechtlich legalen Rechtsgeschäft stammen (vgl. z.B. Urteil des BGer 6B_188/2011 vom 26. Oktober 2011 E. 2). Die Sittenwidrigkeit sei ausserdem durch das Bundesgericht unter anderem für Verträge über erotische oder pornographische Dienstleistungen per Telefon bereits verneint worden (BGE 129 III 604 S. 617 E. 5.3). Der Sexarbeitsvertrag widerspreche auf jedem Fall «nicht in jeder Hinsicht der in der Gesamtrechtsordnung immanenten ethischen Prinzipien und Wertmassstäbe». Ausserdem sei die ausschliessliche Verteidigung der Interessen der Kund*innen der Sexarbeit unvereinbar mit dem Schutz der Sexarbeiter*innen durch Sexualstrafrecht. Schliesslich habe Herr A selbst eine Frau für die Erbringung einer entgeltlichen sexuellen Dienstleistung gesucht, so dass er keinen Schutz durch die von ihm angerufene Sittenwidrigkeit des Sexarbeitsvertrags verdiene. Das Bundesgericht bestätigte somit den Schluss der Vorinstanz, wonach der Anspruch der Privatklägerin auf Entschädigung einen Vermögenswert darstellte (E. 7.2).
Das Bundesgericht sah folglich im Schuldspruch wegen Betruges kein Bundesrecht verletzt (E. 7.2) und bestätigte den Frau B zugesprochenen Schadenersatz. (E. 8).

Direkter Zugang zum Urteil (bger.ch)