Schulstufenmodell bei alternierender Obhut

SCHWEIZ: FAMILIENRECHT - KINDESUNTERHALT

Bundesgericht, 25. September 2018 (5A_968/2017)

Das neue «Schulstufenmodell», das die Aufstockung des Beschäftigungsgrads des kinderbetreuenden Elternteils auf 100 % erst ab dem 16. Altersjahr des jüngsten Kindes verlangt, gilt unter Umständen auch bei alternierender Obhut.

Selbst wenn sich die Eltern die Kinderbetreuung hälftig aufteilen, kann es sein, dass ein Elternteil nicht in der Lage ist, seine Lebenshaltungskosten selbständig zu tragen. In einem solchen Fall ist daher die Festsetzung eines Betreuungsunterhalts in Betracht zu ziehen. Unter Umständen kann zudem, trotz alternierender Obhut, eine bereits zu 70% erwerbstätige Mutter nicht verpflichtet werden, vor dem 16. Altersjahr des Kindes eine Erwerbstätigkeit zu 100% (oder wie der Vater zu 90%) auszuüben. 

Kommentar von Michelle Cottier
Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts dient der am 1. Januar 2017 als Bestandteil des Kindesunterhalts eingeführte Betreuungsunterhalt dazu, das Existenzminimum des betreuenden Elternteils zu decken, wenn dieser aufgrund der Kinderbetreuung dazu selbst nicht in der Lage ist (
BGE 144 III 377, sogenannte Lebenshaltungskosten-Methode für die Berechnung des Betreuungsunterhalts). Nach der Klärung der Frage der Höhe des Betreuungsunterhalts hat das Bundesgericht die Richtlinien zur Zumutbarkeit der Erwerbstätigkeit des hauptbetreuenden Elternteil geändert und statt der bisherigen 10/16 Regel ein Schulstufenmodell eingeführt (siehe dazu den Entscheid 5A_384/2018 im Newsletter 2018#4). Demnach ist für den hauptbetreuenden Elternteil im Regelfall eine Erwerbsarbeit von 50% ab obligatorischer Beschulung des jüngsten Kindes (Altersgrenze bei ungefähr 4 Jahren), 80% ab dessen Eintritt in die Sekundarstufe I (Altersgrenze bei ungefähr 12 Jahren) und 100% ab dessen Vollendung des 16. Lebensjahres zumutbar. Der vorliegende Bundesgerichtsentscheid präzisiert diese Rechtsprechung für den Fall der alternierenden Obhut. Unbeachtet bleibt in der neueren Rechtsprechung zum Unterhaltsrecht die Verpflichtung zur Geschlechtergleichstellung, wie die Schweiz sie durch die Ratifikation des UN-Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) eingegangen ist. So empfiehlt der CEDAW Ausschuss den Vertragsstaaten im Familienrecht ein «de jure und de facto egalitäres System zu schaffen, in dem Männer und Frauen gleichermassen an den wirtschaftlichen Vorteilen und Kosten einer Ehe oder nichtehelichen Lebensgemeinschaft beteiligt sind und die wirtschaftlichen Folgen ihrer Auflösung gleichermassen tragen» (CEDAW Ausschuss, Allgemeine Empfehlung zu Artikel 16, CEDAW/C/GC/29, § 9). Schwer mit dieser Empfehlung vereinbar ist die Tatsache, dass in Zukunft aufgrund der Rechtsprechung des Bundesgerichts der hauptbetreuende Elternteil – in der Schweizer Familienrealität immer noch grossmehrheitlich die Mutter – einseitig das Risiko tragen muss, dass sie die von der Rechtsprechung prognostizierte Erhöhung ihres Einkommens nicht realisieren, oder die notwendige Drittbetreuung der Kinder nicht organisieren kann; ein durchaus konkretes Risiko in Anbetracht der nach wie vor bestehenden Nachteile von Müttern auf dem Erwerbsarbeitsmarkt und der vielerorts schlecht ausgebauten Kinderbetreuungsangebote.
Direkter Zugang zum Bundesgerichtsurteil (bger.ch)