Opfer ehelicher Gewalt zu Unrecht Aufenthaltsbewilligung verweigert

SCHWEIZ: MIGRATIONSRECHT

Bundesgericht, 26. Februar 2020 (2C_922/2019)

Das Amt für Migration des Kantons Luzern muss einer Frau aus Montenegro eine Aufenthaltsbewilligung erteilen, nachdem sie sexuelle Nötigung durch ihren Schwiegervater erlebte und psychische Drangsalierungen durch die Familie ihres Ehemanns ausgesetzt war.

Gemäss Art. 50 Abs. 1 lit. b Ausländer und Integrationsgesetz (AIG) besteht der Anspruch des Ehegatten auf Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung nach Auflösung der Ehe oder der Familiengemeinschaft auch wenn diese weniger als drei Jahre gedauert hat weiter, wenn persönliche Gründe einen weiteren Aufenthalt in der Schweiz erforderlich machen. Damit steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ans Bundesgericht offen (Art. 83 lit. c Ziffer 2 BGG).
Unter den Begriff der häuslichen Gewalt im Sinne der Istanbul-Konvention fallen sämtliche Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, welche innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen bzw. Partnern vorkommen (Art. 3 lit. b Istanbul-Konvention). Auch durch Schwiegereltern ausgeübte Gewalt ist daher als eheliche Gewalt im Sinne von Art. 50 Abs. 1 lit. b AIG zu betrachten, jedenfalls wenn mit den Schwiegereltern in enger Gemeinschaft zusammengelebt werden muss (Erwägung 3.1).
Die Gewährung eines Aufenthaltsrechts für Opfer ehelicher Gewalt nach Art. 50 Abs. 1 lit. b AIG soll verhindern, dass eine von ehelicher Gewalt betroffene Person nur deshalb in einer für sie objektiv unzumutbaren ehelichen Gemeinschaft verbleibt, weil die Trennung für sie nachteilige ausländerrechtliche Folgen zeitigen würde (Kommentar Red.: damit sollte auch klar sein, dass ein Festhalten an der Ehe aus bewilligungsrechtlichen Gründen an sich nicht rechtsmissbräuchlich ist) (Erwägung 3.2).
Zwar ist für die Annahme eines nachehelichen Härtefalls bei häuslicher Gewalt ein hinreichend enger Zusammenhang zwischen der ehelichen Gewalt und der Trennung vorauszusetzen. Aber auch wenn die Initiative zur Trennung nicht vom behaupteten Opfer kommt, wäre es stossend, ihm in einer solchen Konstellation die Berufung auf einen nachehelichen Härtefall zu verweigern (Erwägung 3.3).
Die behauptete eheliche Gewalt muss in geeigneter Weise glaubhaft und beweismässig unterlegt werden. Eine strafrechtliche Verurteilung ist jedoch nicht vorausgesetzt (Erwägung 3.4).
Im konkreten Falle brachte die Beschwerdeführerin vor, Opfer sexueller Übergriffe seitens des Schwiegervaters geworden zu sein, der im selben Haus, wenn auch in einer anderen Wohnung wohnte. Zwar hatten die Übergriffe aufgehört, nachdem sie ihren Ehemann entsprechend informiert hatte. Sie war aber daraufhin Beschimpfungen und Demütigungen durch die Schwiegerfamilie ausgesetzt gewesen (Erwägung 4).
Der Umstand, dass die Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit den fraglichen sexuellen Übergriffen offensichtlich mit verschiedenen Personen in Kontakt stand, sowie die Tatsache, dass verschiedene Fachpersonen – wenn auch aufgrund der Schilderungen des Opfers – von sexueller Belästigung durch den Schwiegervater schreiben – ist ein Indiz für die Richtigkeit ihrer Darstellung (Erwägung 5.2).
Angesichts der gesamten Umstände weist das Bundesgericht das Amt für Migration des Kantons Luzern an, der Beschwerdeführerin eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen.

Direkter Zugang zum Urteil (bger.ch)