Neue Rechtsprechung zum Unterhalt: Das Bundesgericht schneidet nicht alte Zöpfe ab, sondern es schert geschiedenen Frauen kahl

SCHWEIZ: FAMILIENRECHT

Gastbeitrag von Getrud BAUD, Rechtsanwältin

Bundesgericht (Urteile 5A_907/2018 vom 03.11.2020, 5A_311/2019 vom 11.11.2020, 5A_891/2018 vom 02.02.2021, 5A_104/2018 vom 02.02.2021, 5A_800/2019 vom 09.02.2021, 144 III 481)

Das Bundesgericht hat in einer Medienmitteilung vom 9. März 2021 fünf Entscheide als für die Berechnung des nachehelichen Unterhaltsanspruches massgebende neue Präjudizien bezeichnet. Diese Entscheide integrieren einen früheren Grundsatzentscheid aus dem Jahr 2018, mit welchem das Bundesgericht Richtlinien für den Umfang einer zumutbaren Erwerbstätigkeit nebst der Betreuung von minderjährigen Kindern festgelegt hat (sog. Schulstufenmodell). Einer der mitwirkenden Bundesrichter hat in einem Zeitungsinterview die gesellschaftspolitischen Überlegungen, die zu diesen Entscheiden geführt haben, erläutert. (1)
 
Diese Leitentscheide wurden in den Medien grösstenteils als Modernisierung des Familienrechts begrüsst. (2) Eine kritische fachliche Analyse dieser Rechtsprechung gibt allerdings für Frauen keinen Anlass zu Jubel. Im Gegenteil: es werden da nicht alte Zöpfe abgeschnitten, sondern Frauen in ihrer aktuellen Beziehungs- und Familienrealität kahlgeschoren.
 
Mit unserer Berufserfahrung als Anwältin und Richterin arbeiten wir im Folgenden die entscheidenden Elemente, welche das Bundesgericht für die Frage des nachehelichen Unterhalts neu definiert oder ausdrücklich bestätigt hat, heraus und erläutern sie kurz. Zunächst betrachten wir die Zusammensetzung des Bundesgerichts und danach die Vereinheitlichung der Berechnungsmethode, den Einfluss der Lebensprägung einer Ehe sowie den Stellenwert und die Berechnung der Eigenversorgung, für welches das Gericht hypothetische Einkommen und zumutbare Erwerbspensen definiert. Schliesslich nehmen wir auch die Datenlage und Rechtsfolgeforschung unter die Lupe, welche bei einer familienrechtlichen Rechtsprechung zu berücksichtigen wären.

Familienrechtliche Leitentscheide mit reiner Männerbesetzung

Das Bundesgericht hat die fünf von ihm selber als solche bezeichneten Leitentscheide zum Unterhaltsrecht in einer rein männlichen Besetzung getroffen, inklusive dem Gerichtsschreiber. Beim Urteil zum sog. «Schulstufenmodell» hat eine Bundesrichterin mitgewirkt.
 
Dieses Geschlechterverhältnis im richterlichen Gremium und im Besonderen im Familienrecht, wo das Geschlecht eine wichtige Rolle spielt, ist stossend und unter dem Gesichtspunkt der Vorbefassung zumindest in richterethischer Hinsicht fragwürdig. Zudem schmälert es die Akzeptanz von Entscheiden, wenn die Rechtsbetroffenen in einem Rechtsgebiet, das derart zentral und nachhaltig ihr eigenes Leben gestaltet, davon ausgehen müssen, dass das Gericht sich auf eine einseitige Lebenserfahrung stützt.
 
Daran ändert qualitativ wenig, dass offenbar informell intern eine Kollegin in die Entscheidfindung einbezogen wurde. (3) Schon 1991 forderte die Eidgenössische Frauensession in der Abschlussresolution eine «angemessene Vertretung der Frauen in allen entscheidenden Gremien unseres Landes.» Offensichtlich sind wir leider 30 Jahre später immer noch nicht soweit. Abhilfe würde vielleicht eine öffentliche Debatte über die Zusammensetzung der Gerichte bringen. 
 
Berechnungsmethode
Die Berechnung des nachehelichen Unterhaltes wird vereinheitlicht und die zweistufige Methode (Eruieren des familienrechtlichen Existenzminimums plus Verteilung eines allfälligen Überschusses nach grossen und kleinen Köpfen) als Regelmethode sowohl für Kinder- wie für Ehegattinnenunterhalt definiert. Ein Vorgehen nach der einstufigen Methode (Nachweis des bisherigen ehelichen Verbrauchs) ist nur bei sehr guten finanziellen Verhältnissen möglich und ist zu begründen. Unterhaltsberechnungen anhand von Prozenten des Einkommens des Unterhaltsschuldners sind nicht mehr zulässig.
Urteile 5A_311/2019 vom 11.11.2020, 5A_891/2018 vom 02.02.21; 5A_800/2019 vom 09.02.21
 
Eine schweizweite Vereinheitlichung der Berechnungsmethode von Unterhalt ist zu begrüssen. Die zweistufige Berechnungsmethode ist grundsätzlich ebenfalls als praktikabel zu begrüssen. Welche Bedarfspositionen dabei Berücksichtigung finden werden, wird sich erst noch zeigen. Eine Position, die in der Praxis oft nicht berücksichtigt wird, obwohl sie in Art. 125 Abs. 2 Ziff. 8 ZGB ausdrücklich genannt wird, sind die Kosten für die zusätzliche Altersvorsorge bei Teilzeitarbeit. Bei Teilzeitarbeit ist die für die Betreuungsarbeit aufgewendete Zeit nicht altersvorsorgeversichert, weshalb die fehlenden Arbeitnehmerin- und Arbeitgeberbeiträge von AHV und BVG als zusätzliche Kosten beim Bedarf zu berücksichtigen sind. Eigentlich sollte auch ein Karriereknick wegen der Ehe eingepreist werden. Dieser ist für das Bundesgericht leider kein Thema.

Lebensprägende Ehe
Die frühere Definition der lebensprägenden Ehe (mindestens 10 Jahre Ehedauer und/oder gemeinsame Kinder) sowie die richterliche Vermutung, dass wer bis zum 45. Altersjahr vollständig ausserhalb des Erwerbslebens steht, nicht mehr ins Berufsleben zurückfindet, werden ersatzlos aufgegeben. Angesichts der zwischenzeitlich bei knapp 50 % liegenden Scheidungsquote könne aus der gesamtgesellschaftlichen Perspektive zwar nach wie vor, aber nicht mehr in gleicher Intensität, von einem schützenswerten Vertrauen in den Fortbestand der Ehe gesprochen werden.
Urteile 5A_907/2018 vom 03.11.2020; 5A_104/2018 vom 02.02.21; 144 III 481 E. 4.8.2
 
Vorauszuschicken ist, dass die sog. «45-Jahre Vermutung» in der Praxis der erstinstanzlichen Gerichte bereits seit längerem kaum mehr Anwendung findet. Hingegen hat sich die Scheidungsrate der Schweiz entgegen der richterlichen Behauptung seit den 1980-er Jahren nicht wesentlich verändert. Das Bundesgericht wirft mit dieser unzutreffenden Begründung nicht nur die frühere Definition der Lebensprägung, sondern stillschweigend die Lebensprägung einer Ehe überhaupt als anspruchsbegründende Voraussetzung für eine finanzielle Kompensation über Bord, soweit nicht noch aktuell Kinderbetreuungsaufgaben wahrgenommen werden müssen. Dabei wird ignoriert, dass für Frauen nach wie vor sehr wohl und sehr lange die Rollenteilung einer Ehe nach der Trennung wirtschaftlich prägend ist. (4) Mit der Reduktion der Definition einer lebensprägenden Ehe auf das Aufziehen von Kindern und dem Negieren der Schutzwürdigkeit von Vertrauen in den Fortbestand der Ehe wird Art. 125 Abs. 2 ZGB die Umsetzung verweigert.
 
Art. 125
1 Ist einem Ehegatten nicht zuzumuten, dass er für den ihm gebührenden Unterhalt unter Einschluss einer angemessenen Altersvorsorge selbst aufkommt, so hat ihm der andere einen angemessenen Beitrag zu leisten.
2 Beim Entscheid, ob ein Beitrag zu leisten sei und gegebenenfalls in welcher Höhe und wie lange, sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Aufgabenteilung während der Ehe;
2. die Dauer der Ehe;
3. die Lebensstellung während der Ehe;
4. das Alter und die Gesundheit der Ehegatten;
5. Einkommen und Vermögen der Ehegatten;
6. der Umfang und die Dauer der von den Ehegatten noch zu leistenden Betreuung der Kinder;
7. die berufliche Ausbildung und die Erwerbsaussichten der Ehegatten sowie der mutmassliche Aufwand für die berufliche Eingliederung der anspruchsberechtigten Person;

 
Die Verantwortung für die Rollenteilung während der Ehe auferlegt das Gesetz beiden Eheparteien. Hinter jeder Ehefrau, die zugunsten der Familie auf ökonomische Ressourcen, d.h. Geld und Karriere verzichtet, steht auch ein Ehemann. Nach wie vor ist es bei der Geburt eines Kindes die Regel, dass es die Mutter ist, die ihre beruflichen Möglichkeiten und Ziele dem Familienzuwachs anpasst. Sei dies mit Reduktion des Pensums, was praktisch immer mit einer Qualifikationseinbusse verbunden ist, mit einem Verzicht auf Weiterqualifikation oder mit einem Erwerbsunterbruch. Ebenso ist es die Regel, dass ein Paar, und erst recht eine Familie, sich nach dem beruflichen Fortkommen des besserverdienenden Mannes ausrichtet, was den Ort des Lebensmittelpunktes betrifft. Schliesslich ist daran zu erinnern, dass Verzicht auf eigenen Erwerb nicht nur der Haushaltsführung im Sinne von Einkaufen, Kochen, Waschen und Betreuen von gemeinsamen Kindern dient. Durch die vermehrte Präsenz zu Hause werden stillschweigend und zumeist nach und nach weitere Aufgaben und Dienstleistungen im Interesse der ganzen Familie übernommen, wie Organisation der externen Kinderbetreuung, Begleitung und Pflege eigener und der Angehörigen des Partners, Ermöglichen eines attraktiven Lebensumfeldes, Pflege von Freundschaften der ganzen Familie und karrierefördernder Beziehungen des Partners usw. 
 
Das gegenwärtig am weitesten verbreitete Familienmodell zeigt eine meist unter 60%-ige Teilzeiterwerbstätigkeit der Frau und eine Vollzeiterwerbstätigkeit des Mannes. Sogar in der Idealvorstellung von Frauen arbeitet der Mann 80% und die Frau 50%. (5)
 
Spiegelbildlich zu diesen Befunden zur Erwerbsarbeit zeigen die neuesten Erkenntnisse der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung des Bundesamtes für Statistik (BfS), dass im Jahr 2020 die Frauen in der Schweiz rund 10 Stunden mehr Haus- und Familienarbeit pro Woche als die Männer. Geht es um Paare mit Kindern unter 15 Jahren, ist der Unterschied noch deutlicher: Mütter übernehmen im Schnitt 50 Prozent mehr von der Familienarbeit als die Väter.
 
Primat der Eigenversorgung
Das Primat der finanziellen Eigenversorgung ab dem Zeitpunkt der Trennung auch bei lebensprägender Ehe wird vom Bundesgericht bestätigt und verabsolutiert. Mit dem Wegfall des Naturalunterhaltes (Betreuung, Haushalt, Dienstleistungen) entfalle der Anspruch auf Partizipation am Einkommen des/r Ehepartner-s/in. Aus dem Grundsatz der ehelichen Solidarität könnten für den beruflichen Wiedereinstieg allenfalls Übergangsfristen, auch längere, für Weiterbildungen oder Zusatzausbildungen gewährt werden, wenn dadurch die Eigenversorgung verbessert werde.
Urteile 5A_907/2018 vom 03.11.2020; 5A_104/2018 vom 02.02.21
 

Ein gewichtiger Grund für die nach wie vor bestehenden erklärbaren und auch unerklärbaren Unterschiede zwischen Frauen- und Männerlöhnen liegt nebst der Arbeitsmarktsegregation in gut bezahlte typische Männerberufe und schlecht bezahlte typische Frauenberufe in der Teilzeiterwerbstätigkeit bzw. den Erwerbspausen von Frauen. (6) Teilzeitpensen generieren nicht nur prozentual weniger Lohn, sondern sind in der heutigen Arbeitswelt mit Führungsverantwortung und beruflichem Fortkommen meistens schlecht vereinbar. Viele Teilzeiterwerbstätige können zudem ihr Pensum nicht erhöhen, auch wenn sie wollten. Typische Frauenberufe z.B. in der Pflege, im Gesundheits- und Dienstleistungsbereich (Spitex, Hauswirtschaft, Physiotherapie, Dentalhygiene, Kosmetik, Coiffeuse etc.) oder auch im Unterrichtswesen werden selten in Vollzeitpensen ausgeübt, weil sie schlicht zu anstrengend sind. Dies trifft insbesondere auch auf den Beruf der Hilfspflegerin zu, welche das Bundesgericht für jede geschiedene Frau als zumutbar ansieht. (7)
 
Teilzeiterwerbstätigkeit hat auch unschöne Auswirkungen im Alter. Eine Studie der Swisslife vom Dezember 2019 über den «Pension Gap» zeigt, dass ein Drittel der geschiedenen Rentnerinnen Ergänzungsleistungen bezieht. Generell erhalten Altersrentnerinnen heute über alle drei Säulen ein Drittel weniger Rente als die Männer. Wegen dem seit 2000 geltenden Splitting der Pensionskassenguthaben wird sich dieser Unterschied zwar in Zukunft verringern. Die Swisslife-Studie geht aber trotzdem davon aus, dass dieser Gap noch die nächsten Dekaden (!) bestehen bleiben wird – vor allem wegen der Teilzeitarbeit der Frauen. 
 
Eine wenig erforschte, aber lebenspraktische Erfahrung ist zudem, dass Frauen, die den Hauptfokus ihres Lebens auf die Familie ausgerichtet und allenfalls bloss «dazuverdient» haben, nach einer Trennung zuerst eine eigentliche neue berufliche Identität finden müssen. Das braucht Zeit und Kraft, zwei Ressourcen, die besonders in einer Trennungssituation Mangelware sind. Für den Berufseinstieg oder das Erreichen eines bedarfsdeckenden Einkommens braucht es häufig Weiterbildung oder Zusatzausbildung. Zwar gesteht das Bundesgericht grundsätzlich Übergangsfristen für Weiterbildung oder Zusatzausbildung zu, allerdings mit grösster Zurückhaltung. So ist es unerklärlich und absolut stossend, wenn das Bundesgericht ohne weitere Begründung einer geschiedenen Mutter von drei Kindern, welche vor der Ehe ein IT-Studium absolviert und im Informatikbereich gearbeitet hat, eine Weiter- oder Zusatzausbildung im angestammten Beruf verweigert und ihr zumutet, eine 4-monatige SRK-Ausbildung zu absolvieren und als Pflegehilfskraft mit einem Nettolohn von CHF 4’300.— in einem 100%-Pensum zu arbeiten. (8) Die Nachteile der von den Parteien ausgehandelten ehelichen Arbeitsteilung werden so – unter Verletzung von Art. 125 Abs. 2 ZGB – nur der Frau aufgebürdet.

Zudem wird durch die wiederholte Zuweisung des Berufs der Hilfspflegerin durch das Bundesgericht verkannt, dass es sich bei der Pflege um eine psychisch wie physisch anspruchsvolle Tätigkeit handelt, die bei weitem nicht jedem Menschen und auch nicht jeder Frau liegt. Mit der Zuweisung wird einerseits den Gepflegten zugemutet, sich durch beliebige Personen betreuen zu lassen, und andererseits das Berufsbild der Pflegerin einmal mehr herabgesetzt. Dahinter steht überspitzt gesagt offensichtlich die Vorstellung, dass jede Frau, die Kindern den Hintern gewischt hat, dies auch bei pflegebedürftigen Erwachsenen tun könne.
 
Die Frauen können schliesslich ihre Eigenversorgungskapazität nur ausbauen und Weiterbildungen besuchen, wenn genügend bezahlbare Angebote für Drittbetreuung vorhanden sind. Daran fehlt es bekanntlich noch an vielen Orten.
 
Wie die Untersuchung im Rahmen einer Nationalfondsstudie zeigt, ist das Primat der Eigenversorgung über weite Strecken in der Lebenswirklichkeit eine reine Fiktion. Geschiedene Frauen konnten seit der Einführung des neuen Scheidungsrechts, welches in den unteren Gerichten vielerorts als «clean-break»-Prinzip praktiziert wird, die wegfallenden Unterhaltsbeiträge nicht mit eigenem Einkommen kompensieren. (9) Dasselbe ergibt sich aus einer Studie zur Reform von 2008 in Deutschland. Reduzierte Unterhaltsansprüche hatten keinen Effekt auf den Umfang der Erwerbstätigkeit von Frauen (10). Auch die aktuellste schweizerische Befragung zeigt, dass nicht einmal die Hälfte der Frauen in der deutschsprachigen Schweiz mit dem eigenen Einkommen ihren Lebensunterhalt allein bestreiten kann. Einen grossen Anteil machen dabei die Frauen aus, die Kinder grossziehen oder grossgezogen haben. Und zwar unabhängig vom Alter der Kinder, d.h. auch die Mütter grosser oder erwachsener Kinder sind nicht Vollzeit erwerbstätig. Auch im 2021 waren immer noch 27 % der Frauen Vollzeit-Familienfrauen und nur 12 % Vollzeit erwerbstätig; 23 % der Frauen arbeiteten Teilzeit zwischen 50 % – 79 % und 27 % arbeiteten weniger als 50 %. Das heisst, 50 % der erwerbstätigen Frauen arbeiteten Teilzeit. (11)
 
Hypothetisches Einkommen
Sowohl dem Unterhaltsschuldner, als auch der Unterhaltsgläubigerin wird ein hypothetisches Einkommen angerechnet, wenn er bzw. sie sich nicht um (Erwerbs-)einkommen im zumutbaren bzw. erwarteten Umfang bemüht bzw. im Zeitpunkt der Unterhaltsberechnung kein solches erzielt.
Beispielhaft im Urteil 5A_907/2018 vom 03.11.20 E 3.4.4., 3.4.5, 7
 
Eine Anrechnung von hypothetischem Einkommen sowohl für den Unterhaltsschuldner als auch für die Unterhaltsempfängerin erscheint auf den ersten Blick gleichberechtigt. Der faktische Unterschied ist aber riesig. Dem Unterhaltsschuldner wird in der Zwangsvollstreckung in jedem Fall das betreibungsrechtliche Existenzminimum belassen, da in dieses zwangsweise nicht eingegriffen werden darf, wie hoch auch immer ein zumutbarer Erwerb wäre. Demgegenüber bleibt einer Unterhaltsgläubigerin, die aufgrund unrealistischer Erwerbsfiktionen eines Gerichtsentscheides das angerechnete Einkommen nicht erzielen kann, nur der Gang zur Sozialhilfe. Zudem sieht das Gesetz nur die Möglichkeit einer Herabsetzung einer einmal festgelegt Rente vor, nicht aber einer Erhöhung, z.B. wenn das hypothetische Einkommen nicht erzielt werden kann.
 
Damit, dass das Bundesgericht in zwei der Leitentscheide der Ehefrau unbesehen ihrer beruflichen Vorqualifikation aufgrund des bekannten Pflegenotstandes eine 4-monatige SRK-Ausbildung und die Erwerbstätigkeit als Pflegehilfskraft im Umfang von 100% zumutet, setzt es faktisch auf Jahre hinaus das entsprechende Nettoeinkommen von CHF 4'300.- als erzielbar und somit nicht mehr zu überprüfen in die Welt.
 
Schulstufenmodell – zumutbares Erwerbspensum
Einer Person, die minderjährige Kinder betreut, wird ab der obligatorischen Beschulung des jüngsten Kindes eine Erwerbsarbeit von 50 %, ab dessen Eintritt in die Sekundarstufe I eine solche von 80 % und ab dessen Vollendung des 16. Lebensjahres ein Vollzeiterwerb zugemutet.
BGE 144 III 481
 
Den Grundstein für eine fiktionale Eigenversorgungskapazität von Müttern legte das Bundesgericht mit seinem Schulstufenmodell. Das Modell wäre allenfalls realistisch, wenn beide Elternteile gemäss diesem Modell erwerbstätig und die restliche Zeit für die Kinder da wären. Wie gezeigt, ist dies leider nicht der Fall.
 
Abgesehen von den faktischen Schwierigkeiten in Berufen, welche für kleine Pensen geeignet sind, das Pensum beliebig aufzustocken, werden mit dem Modell diverse Realitäten ausser Acht gelassen. In den meisten Kantonen beginnt die obligatorische Einschulung schon mit dem Kindergarten, d.h. mit 4 Jahren. Kindergartenpensen decken aber keine 50%-ige Erwerbstätigkeit inklusive Arbeitsweg ab, und nicht alle Kinder in diesem Alter sind schon selbständig genug, um ergänzende Strukturen zu besuchen – sofern diese überhaupt existieren.
 
Verkannt wird mit dieser Rechtsprechung auch, dass pubertierende Kinder und Kinder beim Übertritt in die Sekundarstufe I häufig wieder mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung durch ihre Eltern benötigen, als Kinder im Primarschulalter. Schulisch werden in dieser Lebensphase, in welcher die Kinder wenig stressresistent sind, wichtige Weichen gestellt. Pubertätsbedingte Turbulenzen wirken sich zudem gut und gerne bis zum 17. oder 18. Lebensjahr aus. Die Art der Betreuung ändert sich zwar, ist aber weniger einfach zu strukturieren. Sie muss dann gewährt werden, wenn sie benötigt wird, und nicht wenn es das Arbeitspensum der Eltern zulässt. Gerade während Trennungszeiten und bei der Neugestaltung der Familienverhältnisse stehen zudem nicht nur die Eltern, sondern auch die Kinder unter höherem Druck und verlangen mehr Aufmerksamkeit, als Gleichaltrige.
 
Einzelfallbetrachtung – Ermessensentscheide
Im Interesse des Kindeswohls und zur Erreichung ausreichender Eigenversorgungskapazität werden allenfalls Übergangsfristen festgesetzt. Entlastungsmöglichkeiten durch freiwillige (vor-)schulische oder ausserschulische Drittbetreuung, das Vorhandensein und der konkreten Greifbarkeit von Drittbetreuungsangeboten (sog. umgebungsbezogene Gründe) werden soweit vorhanden berücksichtigt. Im konkreten Einzelfall werden bei der Anrechnung eines hypothetischen Einkommens zudem die tatsächliche Erwerbsmöglichkeit anhand von Kriterien wie Gesundheit, Ausbildung, Arbeitsmarktlage etc. geprüft.
Urteil 5A_104/2018 vom 02.02.21; BGE 144 III 481 E 4.7.8
 
Der richterliche Grundsatz, wonach immer der konkrete Einzelfall zu betrachten sei, ist tröstlich, aber auch geeignet, schlussendlich jegliche Kritik abprallen zu lassen. Natürlich wird in der Praxis auch – so hoffen wir jedenfalls – konkret im Einzelfall geschaut, ob tatsächlich Kitas und schulergänzende Betreuungsstrukturen existieren und ob Weiterbildungs- oder Zusatzausbildungen hilfreich sind. Auch Einwände gegen tatsächliche Erwerbsmöglichkeiten werden geprüft. Aber: die Last für den Nachweis solcher Tatsachen und Elemente, die im Einzelfall ein Abweichen von den strengen Regeln der Eigenversorgung ermöglichen würden, liegt bei den Unterhaltsberechtigten. Im Bereich des nachehelichen Unterhaltes herrscht die volle Dispositionsmaxime. Es ist somit die anspruchsberechtigte Person d.h. regelmässig die Frau, die beweisen muss, dass sie zu Gunsten der Familie auf berufliche Tätigkeit oder Karriere verzichtet, dass ein Kind besondere Bedürfnisse hat, dass keine bezahlbare Fremdbetreuung existiert, dass sie das Pensum nicht aufstocken kann oder dass keine zumutbare Erwerbstätigkeit für sie besteht. Sie hat alle Beweise zu benennen und vorzulegen. (12) In der Praxis ist dies eine enorme Hürde.
 
Scheidungsurteile ergehen praxisgemäss in 90 % der Fälle gestützt auf eine Konvention. Das heisst, dass die beraterische Tätigkeit im Scheidungsrecht einen sehr grossen Stellenwert hat und die Verhandlungsmacht der Parteien bedeutend ist. Erfahrungsgemäss muss eine Konvention krass willkürlich sein, dass das Gericht sie als solche nicht akzeptiert. Nicht als krass zu bezeichnender und vorurteilsgeprägter Willkür stehen die Türen unter diesen Umständen weit offen. Vage Gesetzestexte und eine Rechtsprechung, die grosse Interpretationsräume offen lässt, führen deshalb regelmässig zu einer Benachteiligung der unterhaltsberechtigten Person. (13)
 
Stand der Forschung
Das Bundesgericht fällte seine neue Rechtsprechung zum Unterhaltsrecht ohne Kenntnisnahme der aktuellen soziologischen und Rechtsfolgeforschung.
 
Der Schweizerische Nationalfonds hat zwischen 2014 und 2018 ein Forschungsprojekt mit dem Titel «Scheidung als soziales Risiko: Institutionelle Rahmenbedingungen, Abhängigkeit von Sozialleistungen und geschlechtsspezifische Ungleichheiten» finanziert. Anfang Dezember 2020 erschien in der Zeitschrift «Horizonte» des SNF ein Hinweis auf eine Studie, die belegt, dass Frauen, die unter dem neuen Scheidungsrecht von 2000 geschieden worden sind, finanziell schlechter dastehen, als jene mit Scheidung in den 1990-er Jahren. Das Ergebnis dieser Studie wird durch die sehr aktuelle Befragung von Frauen zu ihren Lebensbedingungen bestätigt und untermauert. (14)
 
Datenlage
Dass es nur so wenig Forschung zur konkreten Umsetzung des Scheidungsrechts und die persönlichen und wirtschaftlichen Folgen einer Scheidung gibt, ist nicht nur auf fehlendes Interesse, sondern auf eine praktisch inexistente Datenlage zurückzuführen. Bis 2008 mussten die Gerichte lediglich angeben, wie viele Scheidungen sie durchgeführt haben und in wie vielen dieser Scheidungen sowie für wie lange ein Unterhalt zugesprochen worden ist. Seither werden auch diese rudimentären Scheidungsdaten nicht mehr erhoben, sondern nur noch aus den informatisierten Zivilstandsregistern die Anzahl der Scheidungen erfasst «um die Gerichte zu entlasten». (15)
 
Ein weiteres Problem der fehlenden Rechtsfolgeforschung im Unterhaltsrecht ergibt sich bei der üblichen gerichtlichen Berechnung der Eigenversorgungskapazität der Unterhaltsempfängerinnen. Dabei werden Lohnstrukturerhebungsdaten verwendet. Damit werden aber nur Durchschnittswerte berücksichtigt, unabhängig von den tatsächlichen Gegebenheiten des zu beurteilenden Falls (z.B. Care-Verpflichtungen, Berufserfahrung, Gesundheit etc.). Die Gefahr besteht, dass die Eigenversorgungskapazität zu hoch eingeschätzt wird, ähnlich wie bei Beurteilungen der Erwerbstätigkeit von IV-Antragstellenden.
 
Zu fordern ist folglich der Aufbau einer detaillierten nationalen Statistik zu Unterhaltsvereinbarungen und deren Verknüpfung mit anderen einkommensrelevanten Daten. (16) Nur so können die Vorgaben des Gesetzes für eine realitätsgerechte Unterhaltsberechnung eingehalten werden.
 
Fazit
30 Jahre nach der Eidgenössischen Frauensession 1991, die eine angemessene Vertretung der Geschlechter in allen wichtigen Gremien des Landes verlangte, fällt das höchste Familiengericht der Schweiz wegweisende Entscheide nur mit Männern. Das ist ein Skandal.
 
Das Bundesgericht setzt in seinen neuen Urteilen noch stärker auf das Primat der Eigenversorgung und verlangt von Frauen mit Kindern nach der Trennung eine grössere Erwerbstätigkeit. Mit der Streichung jeglicher Regelvermutungen für eine lebensprägende Ehe – abgesehen von aktueller Kinderbetreuung – wird im Scheidungsrecht die schwierige Beweislast einseitig den Frauen auferlegt, die zu Gunsten der Ehe auf Einkommen verzichtet haben. Als Feministinnen haben wir uns schon immer für die Eigenversorgung der Personen und die partnerschaftliche Aufteilung der Familienarbeit engagiert und das auch gelebt. Aber wir wissen alle, dass die Voraussetzungen dafür in der Schweiz immer noch sehr schlecht sind. Eine verstärkte Erwerbstätigkeit von Frauen mit Kindern setzt ausreichende und bezahlbare Drittbetreuung und Tagesstrukturen in den Schulen voraus. Diese fehlen bekanntlich. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass zwar 73% der Frauen erwerbstätig sind, 27 % allerdings nur mit Kleinstpensen, und dass sich die Hälfte der erwerbstätigen Frauen nicht selber finanzieren kann. Die neuen Urteile des Bundesgerichts bilden die familienrechtliche Realität der Schweiz nicht ab, sondern erhöhen den Druck auf die Frauen und sind frauenfeindlich.
 
Absolut unverständlich ist die Haltung des Bundesgerichts betreffend Berufseinstieg, Weiterbildung und Zusatzausbildung. Zwar weist das Bundesgericht ausdrücklich auf diese Möglichkeiten hin, aber es scheint sich mehr um ein reines Lippenbekenntnis zu handeln. Denn in der Praxis verweigert das Bundesgericht im konkreten Fall einer IT-Fachfrau den Berufseinstieg und verweist sie auf die Hilfspflege. Der ehebedingte Nachteil der fehlenden Erwerbstätigkeit während des Zusammenlebens wird auch hier einseitig der Frau aufgebürdet.
 
Das Bundesgericht nimmt sich hier eine Rolle heraus, von welcher es sonst in der Rechtsprechung immer Abstand nimmt. Gerade auch, wenn es um die Gleichstellung der Geschlechter geht, wie aus dem Urteil 1C_549/2010 vom 21.11.11 E. 3.1 ersichtlich. Zudem richtet es seine familienrechtliche Rechtsprechung in anderen Belangen, beispielsweise wenn es um die Definition von alternierender Obhut geht, auch nicht an einer egalitären Aufgabenteilung aus.
 
In den Medien wird kolportiert, mit dieser Rechtsprechung würde «die Politik» unter Druck gesetzt, die entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen. Hier wird aber verkannt, dass mit dieser gesellschaftspolitisierenden Rechtsprechung nicht die Politik, sondern geschiedene Frauen unter Druck gesetzt werden. Geschiedene Frauen sind aber just jene gesellschaftliche Gruppe, die in der Politik die kleinste Lobby hat, weil sie alle Ressourcen für die Bewältigung des täglichen Lebens benötigt.
 
Das Bundesgericht masst sich mit seinen Präjudizien die Rolle eines gesellschaftlichen Schrittmachers an, die auf Kosten der Frauen geht. Es stützt sich auf die Fiktion partnerschaftlicher Rollenteilung und leitet daraus fiktive Erwerbsmöglichkeiten für Frauen nach der Scheidung ab. So sehr wir wünschen würden, dass Frauen und Männer sich gleichermassen an der Care-Arbeit und mit gleichem finanziellem Erfolg an der Erwerbsarbeit beteiligen und hierin mit ausreichenden und erschwinglichen familienergänzenden Angeboten unterstützt werden, ist dies leider heute keine Realität. Wenn das Bundesgericht unter Vernachlässigung von Forschung und Statistik seine Wunschrealität als Grundlage für seine Entscheide nimmt, dann erstellt es eine Fiktion, die zu sehr realen fehlenden ökonomischen Ressourcen der Frauen führt. Das Bundesgericht schneidet nicht alte Zöpfe ab, sondern schert geschiedene Frauen kahl.

 
(1) Interview mit Bundesrichter Nicolas von Werdt, Basler Zeitung vom 07.04.21.
(2) Kathrin Alder, Die Ehe darf kein Monopol mehr sein, NZZ vom 16.04.21 S. 17.
(3) Von Werdt, FN 1.
(4) annajetzt – Frauen in der Schweiz, Die grosse Frauenbefragung von Sotomo und annabelle, Februar 2021 S. 33 ff.
(5) annajetzt Fn 4 S. 36 ff.
(6) annjetzt Fn 4 S. 38.
(7) Urteile 5A_104/2018 vom 02.02.21; 5A_800/2019 vom 09.02.21.
(8) Urteil 5A_104/2018 vom 0.02.21; 5A_549/2019 vom 18.03.21 E. 4.3.
(9) Dorian Kessler, Economic Gender Equality and the Decline of Alimony in Switzerland, Journal of empirical legal studies, Volume 17, Issue 3, 493–518, September 2020 S. 510.
(10) Bredtmann, J. und C. Vonnahme (2019), Less money after divorce – how the 2008 alimony reform in Germany affected spouses’ labor supply, leisure and marital stability. Review of Economics of the Household 17 (4): 1191-1223. DOI: 10.1007/s11150-019-09448-z.
(11) annajetzt Fn 4 S. 33 ff.
(12) s. beispielhaft Urteil 5A_311/2019 vom 11.11.2020 E. 4.
(13) Schwenzer, FamKomm Art. 125 ZGB I.-II. N 2.
(14) annajetzt Fn 4.
(16) LSE/Schweizerische Arbeitskräfteerhebung/Strukturerhebung verknüpft mit AHV-IK-Daten.


Direkter Zugang zu den Urteilen: 5A_907/2018, 5A_311/2019, 5A_891/2018, 5A_800/2019, 5A_104/2018, (bger.ch)
Direkter Zugang zur Medienmitteilung (bger.ch)