Die Rechtsprechung des Bundesgerichts in Sachen Kleidervorschriften

SCHWEIZ: KLEIDERVORSCHRIFTEN

2021

2016 wurde im Gemeinderat Locarno eine Motion eingereicht, die beantragte, in den öffentlichen Bädern das Tragen der Burkini zu verbieten. Eine Gruppe von Feministinnen hat daraufhin am 12. Dezember 2020 eine Online-Konferenz veranstaltet, an der unter anderem die Rechtsprechung des Bundesgerichts in Sachen Bekleidung vorgestellt wurde

Hier findet sich die Motion sowie die Stellungnahmen der Kommissionsmehrheit und -minderheit im Gemeinderat Locarno:

Das Material der Konferenz vom 12. Dezember 2020, einschliesslich Aufnahme der Videokonferenz kann hier heruntergeladen werden.

Nachstehend eine zusammenfassende Übersetzung des Vortrags «Oltre il velo – l’abbigliamento nella giurisprudenza del Tribunale federale» von Rosemarie Weibel:

Jenseits des Schleiers - Kleidung in der Rechtsprechung des Bundesgerichts.
«Eine Reise von Gefängnissen in die Berge, über Plätze, Schulen und Gerichte, inmitten von Schikanen und legitimen Einschränkungen, um zu verstehen, wie die Schweizer Rechtsprechung versucht hat und versucht, Konflikte zwischen kulturellen und religiösen Normen, individuellen Bedürfnissen und Ausdrucksformen, Respekt vor Vielfalt und öffentlichen Interessen zu lösen.»

Kleidervorschriften sind uns in vielen Kontexten vertraut.

Sie können sich im Laufe der Zeit ändern. Im Ständerat zum Beispiel gilt schulterfrei erst seit 2020 nicht mehr als unschicklich (parlament.ch).

Viele Arbeitgebende schreiben ihren Angestellten vor, wie sie sich zu kleiden haben (z.B. aus Gründen der Hygiene, Firmenzugehörigkeit, Sicherheit). Aus diesen und aus Kostengründen lehnte der Bundesrat eine Motion ab, mit der er beauftragt werden sollte, die Zivildienstleistenden während der Dienstleistung für die Öffentlichkeit erkennbar zu machen: Motion vom 31.01.2017.

Kleiderordnungen hängen also auch vom Kontext und von der Funktion ab und wie das Bundesgericht jeweils so schön schreibt: «Die Frage, ob für eine rechtliche Unterscheidung ein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen ersichtlich ist, kann zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich beantwortet werden», was wir ja schon seit Emily Kempin-Spiry wissen (BGE 13 I 1, E. 2).

Im Folgenden einige Urteile des Bundesgerichts, das sich insbesondere mit der Kleidung im öffentlichen Raum, im Strassenverkehr, in der Schule, im Gefängnis und in den Gerichten befasst hat:

BGE 144 I 281 vom 20. September 2018 – zu stark bekleidet? Tessiner Gesetze über die Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum
Am 1. Juli 2016 trat im Tessin ein Verbot der Gesichtsverhüllung auf Strassen und Räumen, die der Öffentlichkeit zugänglich sind in Kraft. Das Verbot entspricht weitgehend der eidgenössischen Initiative, über die wir am 7. März dieses Jahres abstimmen werden (zur Abstimmungsvorlage und zum Beitrag in diesem Newsletter). Die Verbote sehen eine abschliessende Liste von Ausnahmen vor. Politische, gewerbliche oder Werbeveranstaltungen kommen auf dieser Liste nicht vor. Das Bundesgericht entschied, «Im Lichte der Rechtsprechung des Bundesgerichts (BGE 117 Ia 472) erscheint das so formulierte Verbot unter dem Blickwinkel der Meinungsfreiheit, der Versammlungsfreiheit und der Wirtschaftsfreiheit als unverhältnismässig (E. 5.3 und 7). Um es mit diesen Grundrechten vereinbar zu machen, wird der Grosse Rat die Gesetze ergänzen und zusätzliche Ausnahmen für die betreffenden Veranstaltungen vorsehen müssen (E. 5.4.3- 5.5 und 7.4).»
Eine bestimmte Bekleidung kann also durch eine öffentliche Funktion oder gesetzliche Vorschrift oder andere besondere Regeln gerechtfertigt sein. Gründe können sich aus gesundheitlichen, sicherheitstechnischen, beruflichen oder sportlichen Anforderungen ergeben, oder mit Bezug auf religiöse, traditionelle, kulturelle, künstlerische Veranstaltungen, Feste und Gedenkfeiern. Aber auch politische oder kommerzielle Rechtfertigungen kommen in Frage.
Im Gegensatz zum UNO-Menschenrechtsausschuss, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in den Fällen, die Frankreich und Belgien betrafen, entschieden, dass das Verbot der Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum nicht gegen die Religionsfreiheit verstosse, sondern im Interesse des Zusammenlebens in einer freiheitlichen Gesellschaft gerechtfertigt sei (AFFAIRE S.A.S. c. FRANCE (Requête no 43835/11) vom 1. Juli 2014). Das schweizerische Bundesgericht hatte sich zur Frage der Religionsfreiheit bisher nicht zu äussern.

BGE 138 IV 13 vom 17. November 2011 – zu wenig bekleidet – Nacktwandern
Bis in die Neunzigerjahre war nackt baden oder sonnenbaden als unzüchtige Handlung gemäss Art. 203 Strafgesetzbuch verboten (BGE 89 IV 129 vom 5. Juli 1963).
Aber auch heute kann zum Beispiel Nacktwandern aufgrund lokaler Reglemente gebüsst werden, so im Kanton Appenzell Ausserrhoden, wo das Gesetz über das kantonale Strafrecht «unanständiges Benehmen» mit Busse belegt. Die Kantone sind gestützt auf Art. 335 Abs. 1 StGB befugt, das «Nacktwandern» im öffentlichen Raum unter Strafe zu stellen und eine Norm, welche demjenigen Strafe androht, der «öffentlich Sitte und Anstand grob verletzt», ist gemäss Bundesgericht hinreichend bestimmt. Nacktwandernde dürfen also gebüsst werden, auch wenn der Entblössung der Geschlechtsteile keine sexuelle Bedeutung zugeschrieben werden kann, es sich also nicht um Exhibitionismus, sexuelle Belästigung oder andere strafrechtlich sanktionierte Handlungen handelt.
Das Bundesgericht hat zwar festgehalten, dass das Recht auf individuelle Lebensgestaltung auch die «Freiheit in der Auswahl der Bekleidung etwa nach den Gesichtspunkten der Ästhetik und der Praktikabilität» umfasst. Aber «Der Mensch, der unterwegs ist, trägt wenigstens ein Kleidungsstück, welches den Intimbereich bedeckt. Nacktwandern widerspricht klar den Sitten und Gebräuchen, Gepflogenheiten und Konventionen».

BGE 133 IV 308 vom 5. Juli 2007 und BGE 143 IV 308 vom 18. Juli 2017 – Ausdruck einer Haltung – Abhängig vom Kontext
Kleidung kann je nach den Umständen auch Ausdruck einer Haltung sein.
In zwei Urteilen hat das Bundesgericht die Bekleidung beigezogen um zu beurteilen, ob der Tatbestand der Rassendiskriminierung gemäss Art. 261bis Strafgesetzbuch erfüllt sei.
Im ersten Fall aus dem Jahr 2007 stellte sich die Frage, ob schwere im öffentlichen Raum begangene Körperverletzungen zusätzlich den Tatbestand der Rassendiskriminierung erfüllten. Angesichts unter anderem zweier Aufnäher waren die Täter «zweifellos der Szene der 'Neonazis' beziehungsweise 'Rechtsradikalen' zuzuordnen.» In Anbetracht der gesamten Umstände kam das Bundesgericht aber zum Schluss, dass der «Vorfall für einen unbefangenen durchschnittlichen Dritten nicht klar erkennbar als rassistischer Akt, durch welchen das Opfer wegen seiner Rasse als minderwertiger Mensch hingestellt werden sollte» erkennbar war. Die beiden Aufnäher waren klein und schon aus wenigen Metern Entfernung nicht mehr zu entziffern bzw. zu erkennen und es sei auch nicht allgemein bekannt, dass (damals) von Rechtsextremen getragene Bomberjacken ein oranges Innenfutter aufweisen.
Im zweiten Fall aus dem Jahr 2017 ging es um den vor einer Synagoge gezeigten 'Quenelle-Gruss' (bei dem ein Arm mit offener Handfläche schräg nach unten gestreckt und die andere Hand über die Brust auf die Schulter oder den Oberarm gelegt wird). Da die drei Männer vermummt waren und einer von ihnen einen Kampfanzug der Schweizer Armee trug, erfüllten die fotografierte und im Internet publizierte Gesten die Tatbestandsvoraussetzungen der Rassendiskriminierung.

Konflikte zwischen religiösen und staatlichen Normen
Schon im ersten Jahr seiner Existenz hatte das Bundesgericht eine Klage von Exponenten des katholischen Klerus zu beurteilen gegen den Kanton Genf, der jegliches Tragen religiöser Kleidung im öffentlichen Raum verbieten wollte (BGE 1 I 278 vom 20. November 1875).
1993 entschied das Bundesgericht, die Glaubens- und Gewissensfreiheit der Angehörigen der Religionsgemeinschaft der Sikhs werde durch die Pflicht, einen Schutzhelm zu tragen, nicht beeinträchtigt (BGE 119 IV 260 vom 27. Mai 1993).
In neuerer Zeit gibt vor allem das Tragen des muslimischen Kopftuchs zu diskutieren.
Im ersten publizierten Fall schützte das Bundesgericht das gegenüber einer in einer öffentlichen Schule tätigen Lehrerin in Genf ausgesprochene Verbot, in der Schule eine nach ihrer Auffassung den Anforderungen des Korans entsprechende Kopfbedeckung zu tragen. «Dieses Verbot entspricht einem überwiegenden öffentlichen Interesse (insbesondere der konfessionellen Neutralität und dem Religionsfrieden in der Schule) und ist verhältnismässig». (BGE 123 I 296, 12. November 1997).
Ähnlich entschieden hat das Bundesgericht kürzlich bezüglich einer Anpassung des Personalreglements der Gerichte des Kantons Basel-Stadt, die Gerichtspersonen das Tragen religiöser Symbole bei Verhandlungen untersagte (siehe NL 2020#1). Es liege einerseits kein schwerer Eingriff in die Religions- und Meinungsfreiheit vor, andererseits sei der Eingriff durch die Neutralitätspflicht des Staates gerechtfertigt (BGer 2C_546/2018 vom 11. März 2019).
Anders urteilt das Bundesgericht, wo es um Schülerinnen geht, die das islamische Kopftuch tragen. In diesen Fällen betrachtet das Bundesgericht ein entsprechendes Verbot als schweren Eingriff in die Glaubens- und Gewissensfreiheit, welche durch kein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist. In einem ersten Fall vom 11. Juli 2013 (BGE 139 I 280 vom 11. Juli 2012, Thurgau), fehlte schon die gesetzliche Grundlage. In einem weiteren Fall, vom 11. Dezember 2015, hiess das Bundesgericht die Beschwerde der Eltern mit Berufung auf die staatliche Neutralitätspflicht gut. Diese «verbietet generell eine Parteinahme des Staates zugunsten oder zuungunsten einer bestimmten Religion und mithin jede Sonderbehandlung von Angehörigen einer Religion, die einen spezifischen Bezug zu deren Glaubensüberzeugung aufweist.» Damit geht jedoch gerade nicht (auch) eine entsprechende Neutralitätsverpflichtung der Benutzer*innen einher, jedenfalls solange sie durch ihre Grundrechtsausübung die Grundrechte Dritter nicht in unzulässiger Weise beeinträchtigen. (BGE 142 I 49 vom 11. Dezember 2015; SG-St. Margrethen).
Ebenso urteilte das Bundesgericht bezüglich der Walliser Initiative «Pour des élèves tête nue dans les écoles publiques valaisannes», mit der jegliche Kopfbedeckung in den öffentlichen Schulen des Kantons verboten werden sollte. Das Tragen des Kopftuches, ebenso wie der Kippa und der Kutte der christlichen Mönche oder religiöser Symbole allgemein sei als solche noch keine Propaganda, sondern durch die Glaubens- und Gewissensfreiheit geschützt. Wer das Kopftuch trägt, tut dies nicht unbedingt unter Zwang, sondern kann damit auch ihre religiöse oder kulturelle Zugehörigkeit zum Ausdruck bringen wollen (BGer 1C_76/2018 vom 20. August 2018).

Schliesslich ist daran zu erinnern, dass das blosse Tragen des Kopftuches für sich allein keine gegen rechtsstaatliche und demokratische Wertvorstellungen verstossende Haltung zum Ausdruck bringt, so dass eine Einbürgerung nicht deswegen verweigert werden darf (BGE 134 I 49 vom 27. Februar 2008).

Einige Worte zu Burkini und Schwimmbad
In mehreren Urteilen hatte sich das Bundesgericht zu Gesuchen der Eltern von Schülerinnen und Schülern zu äussern, die beantragten, ihre Kinder vom gemischtgeschlechtlichen Schwimmuntericht zu dispensieren. BGer 2C_1079/2012 vom 11. April 2013 zum Beispiel ist zu entnehmen, dass der Kanton den Dispens verweigerte (was der Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte schützte, NL 2017#1), aber die Verwendung eines sogenannten Burkini gestattete, «d.h. eines nicht eng am Körper anliegenden Ganzkörperschwimmanzugs mit integrierter Schwimmkappe».
In BGer 2C_724/2011 vom 11. April 2012 betreffend weitgehender Schul-Dispensationsgesuche von Angehörigen der Christlich Palmarianischen Kirche der Karmeliter vom Heiligen Antlitz führte das Bundesgericht aus, dass nach Art. 15 Abs. 4 BV zwar niemand gezwungen werden darf, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen. Art. 15 BV verleiht aber grundsätzlich keinen Anspruch darauf, nicht mit den religiösen Handlungen anderer (wozu nebst Gesängen auch die Bekleidung gehören kann) konfrontiert zu werden.
Schliesslich ist nicht zu verkennen, «dass gerade im Freien Sport in sehr unterschiedlicher Bekleidung, die nicht jedermann gefällt, getrieben wird». So das Zürcher Verwaltungsgericht in einem Entscheid von 2005 in dem es darum ging, ob das Gefängnis Poeschwies seinen Insassen das Tragen langer Unterhosen unter der kurzen Traininghose untersagen dürfe. Der Fall zeigt übrigens auch auf, wie Kleidervorschriften auch geradezu schikanös sein können (BGer 1P.3/2005 vom 9. März 2005; Verwaltungsgericht Zürich, VB.2009.00120, vom 20. August 2009).