Newsletter FRI 2021*3 - Editorial

Liebe Leser*innen

In knapp einem Monat, dem 26. September 2021, stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über die Vorlage «Ehe für alle» ab. Die Öffnung der Ehe erlaubt eine bessere Absicherung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften im Vergleich zur bisherigen «eingetragenenen Partnerschaft». So wird für verheiratete gleichgeschlechtliche Paare statt der Gütertrennung neu die Errungenschaftsbeteiligung als ordentlicher Güterstand gelten, die erleichterte Einbürgerung wird möglich und im Todesfall wird die überlebende Ehepartnerin eine Witwen-, und der überlebende Ehepartner eine Witwerrente erhalten.

Wesentlich sind auch die Verbesserungen für Frauen- und Männerpaare mit Kinderwunsch: neu wird für sie die gemeinsame Adoption möglich. Die Ehefrau der gebärenden Mutter erhält automatisch die Stellung als zweiter Elternteil, allerdings unter der Bedingung der Inanspruchnahme einer fortpflanzungsmedizinisch begleiteten Samenspende im Inland. Dies bedeutet, dass bei einer Samenspende im Ausland oder im privaten Kontext ohne fortpflanzungsmedizinische Begleitung die Elternschaft der Co-Mutter weiterhin nur mittels einer «Stiefkindadoption» (Art. 264c ZGB) entstehen kann. Das Gleiche gilt für die Elternschaft des zweiten Vaters im Fall einer Leihmutterschaft im Ausland. Weitere Reformen werden notwendig sein, um das Kindesverhältnis zum zweiten Elternteil auch in diesen Fällen ab der Geburt oder möglichst rasch abzusichern. Ein vom Bundesgericht vor Kurzem entschiedener Fall macht deutlich, wie wesentlich die originäre Elternschaft ab der Geburt ist: In diesem Fall wurde die Co-Mutter, mit der die gebärende Mutter das Elternschaftsprojekt («projet parental») gemeinsam realisiert hatte, vom Gesetz in Bezug auf die Regelung des Besuchsrechts wie eine Drittperson behandelt (Art. 274a ZGB) und nicht wie ein Elternteil, da die Co-Mutter aufgrund der Trennung das Kind nicht mehr adoptieren konnte.

Dass die Ehe nun auch für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet werden soll, ist die Folge einer Entwicklung, die bereits mit der Reform des Eherechts in den 1980er Jahren begonnen hat: Die explizite, gesetzliche Zuordnung der Rolle des Familienoberhaupts und Ernährers an den Ehemann, und der Rolle der für Kinderbetreuung und Haushalt zuständigen Mutter an die Ehefrau, wurde damals durch ein partnerschaftliches Ehemodell ohne geschlechtsspezifische Rollenzuweisungen ersetzt. Dieser erste Schritt zu einem geschlechtsneutral formulierten Familienrecht erleichtert es heute, der Vielfalt der Geschlechtsidentitäten, sexuellen Orientierungen, Lebens- und Familienformen gerecht zu werden. Sie darf aber nicht dazu führen, dass aus dem Blick verloren wird, dass auf das Geschlecht bezogene Normen in der Gesellschaft fortwirken und insbesondere Erwartungen an die unbezahlte Übernahme von Care-Arbeit durch Frauen faktische Ungleichheitsverhältnisse hervorbringen. Aufgrund Art. 16 CEDAW und Art. 8 Abs. 3 BV hat das Ehe- und Familienrecht im Zusammenspiel mit der Sozial- und Familienpolitik weiterhin die Aufgabe, einen Ausgleich für diese Nachteile zu schaffen.

Für die Redaktion:
Michelle Cottier, Alexandre Fraikin, Sandra Hotz, Manuela Hugentobler, Nils Kapferer, Meret Lüdi (verantwortliche Redaktorin) und Rosemarie Weibel