Newsletter FRI 2021*2 - Editorial

Liebe Leser*innen

Seit Inkrafttreten des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) am 1. Januar 1948 hat das Rentenanspruchsalter für Frauen stark fluktuiert. Das AHVG sah anfangs ein identisches Alter für Frauen und Männer von 65 Jahren vor, das später auf 62 Jahre gesenkt wurde. Mit der 10. Revision des AHVG wurde das Anspruchsalter zuerst auf 63 (im Jahr 2001) und dann auf 64 (im Jahr 2005) erhöht. Der Bundesrat hat in den letzten Jahren zweimal erfolglos versucht, das Alter auf 65 Jahre anzuheben. Trotz dieser Misserfolge verfolgt der Bundesrat hartnäckig ein neues Projekt namens AHV 21. Dies vor allem unter dem Vorwand, die Nachhaltigkeit der angeblich bedrohten AHV zu sichern, während die Finanzen der AHV im Jahr 2020 mit einem Gewinn von 1,9 Milliarden Franken bei einem Vermögen von 33,4 Milliarden abgeschlossen wurden.

Der Ständerat hat dem Vorhaben, das Rentenalter für Frauen anzuheben, bereits zugestimmt. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) des Nationalrats hat das Vorhaben nicht nur akzeptiert, sondern auch einige weitere Änderungen vorgeschlagen. Dazu gehören die Verkürzung der Übergangsmassnahmen von neun auf sechs Jahre, die Anhebung des Mindestalters für den vorzeitigen Ruhestand von 62 auf 63 Jahre und die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,4 Prozentpunkte (im Vergleich zu 0,3 im Ständerat).

Pikanterweise hat der Bundesrat in seiner Gleichstellungsstrategie 2030 die Erhöhung des Rentenalters für Frauen als Massnahme im Handlungsfeld «Beruf und öffentliches Leben» aufgenommen, deren Ziel es ist, «[die] wirtschaftliche Autonomie von Frauen [...] während ihres gesamten Lebens zu stärken, unabhängig von ihrem Zivilstand und ihrer familiären Situation».

Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass das Lohngefälle in der Schweiz zu Ungunsten der Frauen hartnäckig ist. Zwischen 2014 (18,1%) und 2018 (19%) hat es sogar zugenommen, wie die jüngste Schweizerische Lohnstrukturerhebung (LSE) zeigt, die den Anteil der unbezahlten Arbeit-, Haus- und Betreuungsarbeit, der überwiegend von Frauen geleistet wird, nicht berücksichtigt. Würde das Grundrecht auf «gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit» (Art. 8 Abs. 3 der Bundesverfassung) in der Schweiz respektiert, würde dies zu einer erheblichen Finanzierung des AHV-Fonds führen.

Die Gleichstellung von Frauen und Männern ist nicht die einzige verfassungsrechtliche Garantie, die nicht respektiert wird. Im Bereich der Altersvorsorge haben laut Bundesverfassung die Renten aus der Altersversicherung «den Existenzbedarf angemessen zu decken.» (Art. 112 Abs. 2 lit. b der Bundesverfassung). Dies ist leider nicht der Fall.

Im Jahr 2020 lebte eine von sechs Frauen im Ruhestand in Armut (im Vergleich zu fast einem von zehn Männern). Frauen nehmen auch eher Ergänzungsleistungen in Anspruch. Grund dafür ist der unterschiedliche Zugang zum Bundesgesetz vom 25. Juni 1982 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG), der zweiten Säule der Altersvorsorge: 2018 bezogen 44% der Neurentnerinnen und 15% der Neurentner nur die AHV. Die Mehrheit der Bezüger*innen einer BVG-Rente ist also männlich (62%). Männer erhalten deutlich höhere Renten als Frauen (im Jahr 2019 betrugen die neuen monatlichen Renten für Männer im Durchschnitt CHF 2’694 gegenüber CHF 1’519 für Frauen; vgl. BFS, Pensionskassenstatistik, 2018, 2019).

Eine Reform der Sozialversicherungen sollte deshalb die AHV, die erste Säule des Systems, die zum Teil die unbezahlte Haus- und Pflegearbeit von Frauen berücksichtigt, stärken und nicht die Zugangsbedingungen verschärfen. Das Existenzminimum sollte dank der AHV für alle garantiert werden, ohne dass auf das stark diskriminierende BVG zurückgegriffen werden muss, das auf dem Prinzip der individuellen Kapitalisierung beruht.

Zudem sind die Vorschriften für AHV-Anlagefonds strenger als die der 2. Säule, deren Fonds keinen besonderen ethischen oder ökologischen Standards unterliegen. Das hat zur Folge, dass grosse Teile der beruflichen Vorsorge in multinationale Unternehmen investiert werden, die an der Zerstörung der Umwelt beteiligt sind.

Die 10 Milliarden Einsparungen, die die Reform vorsieht, dürfen nicht auf dem Rücken der Frauen ausgetragen werden. Es gibt noch andere rechtliche Wege zur Finanzierung des Rentensystems. Der Bundesrat räumt ein, dass eine Erhöhung der paritätischen Beiträge um 0,3 % ausreichen würde, um so viel einzusparen wie mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters für Frauen. Eine Erhöhung um 0,9% würde die gesamten Einsparungen, die durch die AHV 21-Massnahmen vorgesehen sind, ausgleichen. Die Erhöhung der Beiträge würde zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen sowie zwischen Frauen und Männern aufgeteilt werden. Auch der Bund könnte sich an der Finanzierung der AHV beteiligen, z.B. durch die Verwendung der Gewinne der Schweizerischen Nationalbank (SNB) oder durch die Einführung einer Steuer auf Dividenden.

Das Editorial wurde gemeinsam mit dem feministischen Streikkollektiv Freiburg verfasst.

Für die Redaktion:
Michelle Cottier, Alexandre Fraikin, Sandra Hotz, Manuela Hugentobler, Nils Kapferer, Meret Lüdi (verantwortliche Redaktorin) und Rosemarie Weibel