Newsletter FRI 2020#4 - Editorial

Liebe Leser*innen

In seiner Botschaft zum Bundesgesetz über die gesetzlichen Grundlagen für Verordnungen des Bundesrates zur Bewältigung der Covid-19-Epidemie (Covid-19-Gesetz) stellt der Bundesrat lapidar fest: «Zum jetzigen Zeitpunkt lassen sich mögliche Auswirkungen auf die Gleichstellung von Frau und Mann noch nicht feststellen, da Analysen in diesem Bereich fehlen» (BBl 2020, 6620).
 
Wie eine solche Analyse hätte aussehen können, war die Leitfrage des FRI Exchange No. 20 «Bitte kein Blindflug mit den Covid-19-Gesetzen und -Verordnungen!», das am 14. November 2020 online stattfand. Gemeinsam nutzten wir das von Autorinnen des FRI erarbeitete Tool ‚Gleichstellungsfolgenabschätzung in Gesetzgebungsprojekten’, das im Rahmen der Covid-19-Gesetzgebung bedauerlicherweise nicht genutzt wurde.
 
Das Tool sieht eine Prüfung in fünf Arbeitsschritten vor. Zunächst ist die allgemeine Ausgangslage zu klären, und sind die von der Vorlage betroffenen Personengruppen zu eruieren. Die Zielsetzung des dringlichen Bundesgesetzes ist die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die durch den Bundesrat notverordnungsrechtlich beschlossenen Massnahmen. Zwei Personengruppen wurden im Rahmen des Workshops untersucht; zum einen die Personengruppe der Eltern und der Personen, die nahestehende Menschen pflegen oder betreuen; und zum anderen die Gruppe der Migrant*innen und Asylsuchenden.
 
In den weiteren zwei Arbeitsschritten wird die bestehende Situation der relevanten Personengruppen dargestellt anhand der 3 R (Repräsentation, Ressourcen und Realitäten/Risiken) und dieser Ist-Zustand wird aus der Sicht des Gleichstellungsgebots geprüft.
Der Ist-Zustand bei Eltern während der Covid-19-Pandemie hat sich laut aktuellen Untersuchungen zulasten der Frauen verschlechtert. Wie eine vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann in Auftrag gegebene Studie zeigt, sind Frauen von den zusätzlichen Betreuungspflichten aus Homeschooling und der Einschränkung der familienexternen Kinderbetreuungsmöglichkeiten stärker betroffen als Männer. Die befragten Personen gaben an, wegen Homeschooling und Kinderbetreuung weniger Kapazitäten für die Erwerbstätigkeit zu haben. Auch die Publikationen des EKF zu Corona weisen auf die Ungleichheiten hin. Wie viele Männer und wie viele Frauen Corona-Erwerbsersatzentschädigung beziehen, ist aus den öffentlich zugänglichen Statistiken nicht erkennbar.
Die Swiss National COVID-19 Science Task Force hat in einem Policy Brief unterstrichen, dass Migrantinnen, insbesondere ohne Aufenthaltsstatus, eine Gruppe von Frauen sind, die in der Pandemie von Krankheit, Gewalt, Ausbeutung und wirtschaftlicher Not besonders bedroht sind. Sans-Papiers sind aufgrund prekärer Arbeitsbedingungen und ihres Aufenthaltsstatus stärker von den Folgen der Pandemie betroffen. Der Gesundheitsschutz in den Bundesasylzentren war während der ersten Welle der Pandemie laut Medienberichten nicht garantiert.
 
Nach der Beschreibung des Ist-Zustandes folgt der vierte Arbeitsschritt der Abschätzung der Auswirkungen des geplanten Erlasses auf die Gleichstellung der Geschlechter. In einem fünften Schritt werden Lösungsvarianten entwickelt, die der Verwirklichung der Gleichstellung besser dienen.
 
Die Analyse im Rahmen des Workshops hat ergeben, dass das Covid-19-Gesetz voraussichtlich die Geschlechtergleichstellung nicht verbessern wird, da der Erlass und die darauf gestützten Verordnungen keinerlei Vorkehrungen zur Beseitigung von durch die Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie verstärkten geschlechtsbezogenen Ungleichheiten trifft. Als Lösungsmöglichkeiten für Migrant*innen wurde unter anderen ein Widerrufstopp der Aufenthaltsbewilligungen und ein besserer Gesundheitsschutz für Asylsuchende in den Bundeszentren diskutiert. In Bezug auf Eltern und Personen, die sich um nahestehende Menschen kümmern, könnte ein Kündigungsschutz im Arbeitsrecht hilfreich sein. Schliesslich wäre es für die Korrektur bestehender Ungleichbehandlungen von Nutzen, wenn die Statistiken über staatliche Hilfen, beispielsweise in Bezug auf die Corona-Erwerbsersatzentschädigung, nach Geschlecht aufgeschlüsselt würden, um so allfällige Ungleichbehandlungen entdecken zu können. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass zu erwarten ist, dass sich bestehende geschlechtsbezogene Ungleichheiten während der Pandemie weiter verstärken werden, und die aktuelle Gesetzgebung voraussichtlich wenig zu deren Beseitigung beitragen wird.


Für die Redaktion:
Michelle Cottier, Alexandre Fraikin, Sandra Hotz, Manuela Hugentobler, Nils Kapferer, Meret Lüdi (verantwortliche Redaktorin) und Rosemarie Weibel