Newsletter 2020#2 - Editorial

Liebe Leser*innen

Das Menschenrecht auf Gesundheit gilt für alle weltweit (z.B. Art. 12 UNO-Pakt I, Art. 25 AEMR). Es bleibt aber immer noch vielen Menschen verwehrt und ist abhängig von Bildung, Einkommen, Gesundheitswesen und anderen Faktoren wie etwa Alter oder Geschlecht. Der General Comment Nr. 14 (2000) des Wirtschafts- und Sozialrates der Vereinten Nationen vom 11. August 2000 zu Art. 12 UNO-Pakt I zum Recht auf den höchstmöglichen Standard an Gesundheit empfiehlt etwa allen Mitgliedstaaten explizit eine Geschlechterperspektive in ihrer Gesundheitsplanung und -versorgung aufzunehmen und die entsprechenden Daten zu erheben, um Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung erkennen zu können (Rz. 20).  Um die Diskriminierung von Frauen* zu beseitigen, sei eine umfassende nationale Strategie zur Förderung des Rechts der Frauen auf Gesundheit nötig (Rz. 21).

Dass in Covid19-Zeiten vor allem arme Bevölke­rungs­gruppen stark benachteiligt sind beim Zugang zu Desinfektionsmitteln, Medikamenten, Masken oder bei der Durchsetzung von Distanzierungsregeln, dürfte unbestritten sein.  – Wie verhält es sich nun konkret, wenn eine Migrantin Sans-Papier in der Schweiz ist? Wenn eine Grenzgängerin als Pflegerin hier tätig ist, weil sie eine ganze Familie mit ihrem Einkommen ernährt?
 
In der Schweiz setzen sich Bund und Kantone nach Art. 41 BV dafür ein, dass „jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält“, in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative. Und nach Art. 12 BV hat jede Person, die sich in der Schweiz aufhält (auch Migrantinnen und Migranten und Sans-Papiers) das Recht auf Hilfe in Notlagen, einschliesslich der für das Überleben notwendigen medizinischen Versorgung. Der Schutz von besonders vulnerablen Menschen beruht auf dem Grundrecht auf Gleichbehandlung, keinen Menschen unterversorgt zurückzulassen. Studien zeigen aber, dass auf der normativen Ebene in den nationalen Pandemieplänen gewisse Personengruppen, z.B. Migrantinnen und Migranten, nicht mitgedacht werden: sie sind also unsichtbar. Auch die Geschlechterperspektive fehlt oft. – Im schweizerischen Pandemieplan aus dem Jahre 2018 kommen weder Migrantinnen und Migranten noch Frauen* explizit vor.

Die Covid19-Verordnung 2 (Stand 14. Mai 2020, SR 818.101.24), welche für die epidemiologische Eindämmung der Pandemie in der Schweiz sorgen sollte und soll, bestimmt, dass alle Menschen über 65 Jahren besonders gefährdet sind sowie diejenigen mit bestimmten Vorerkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreis­lauf-Erkrankungen, chronische Atemwegserkrankungen, Erkrankungen und Therapien, die das Immunsystem schwächen oder Krebs (Art. 10b Abs. 2), wobei die Liste der Vorerkrankungen in Anhang 6 laufend aktualisiert wird. Für diese Gruppe der besonders gefährdeten Menschen sind erhöhte Schutzmassnahmen vorgesehen. Auch hier bleiben Personengruppen wie Migrantinnen und Migranten oder Frauen* unerwähnt.  – Dabei ist es unbestritten, dass das Pflegepersonal im schweizerischen Gesundheitswesen, mehrheitlich aus Frauen* und oft auch aus Migrant*innen besteht. Sie arbeiten rund um die Uhr und sind für die Bewältigung der Pandemie zentral. Ebenfalls klar ist, dass sie, die bei der Betreuung und Pflege von Corona-Virus infizierten Patient*innen involviert sind, sich selbst in gesundheitliche Gefahr bringen und ihre Familienangehörigen gefährden. Als ob das noch nicht genug wäre, kommt hinzu, dass sie in Pflegeberufen oder als Supermarkt-Kassierer*innen typi­scherweise auch weniger gut verdienen als Männer*. – Von allen anderen Frauen* in der Schweiz, die in Covid19-Zeiten in einem noch stark erhöhten Masse betreuen, pflegen und beschulen, und ihren beruflichen Benachteiligungen kann hier nicht auch noch die Rede sein.

Die Covid19-Situation hat im Resultat verschiedene Ungleichgewichte verschärft. Regierungen müssten für alle Menschen, die einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, Massnahmen erlassen und ergreifen. Dies sind nicht nur die über 65-jährigen oder die krankheitsmässig vorbelasteten Personen, sondern auch alle, die über die Massen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt werden, weil sie pflegen und betreuen, und weil sie arm sind und keine andere Wahl haben als zu migrieren. Bref: Besondere Schutzmassnahmen – auch in Krisenzeiten – können sich nicht nur nach klassischen epidemiologischen Kriterien bestimmen, sondern müssen auf weitere Parameter wie Geschlecht und Ökonomie Rücksicht nehmen. Doch dafür braucht es das entsprechende Bewusstsein (z.B. mehr Expertinnen, intersektionale Perspektive) und die Anwendung der entsprechenden Tools (z.B. den Leitfaden: Folgenabschätzung für die Gleichstellung von Frau und Mann in Gesetzgebungsprojekten)
 
Zu guter Letzt sei darauf hinzuweisen, dass die Corona-Pandemie auch an der Forschung nicht spurlos vorbeigehen wird. Viele Wissenschaftler*innen werden beispielsweise rückblickend in Covid19-Zeiten weniger geforscht respektive geschrieben haben. Fakt ist, von den rechtswissenschaftlichen Artikeln, die in der Schweiz in den letzten Wochen zur Covid19-Situation geschrieben wurden, stammt die überwiegende Mehrheit von Männern* (z.B. Artikel des DIKE-Verlags, siehe auch den Beitrag in diesem Newsletter zu den veröffentlichten Artikeln während der Covid19-Pandemie). Deshalb braucht es jetzt auch besondere Massnahmen für Wissenschaftler*innen (z.B. die Petition des VPOD)!

Für die Redaktion:
Michelle Cottier, Alexandre Fraikin, Sandra Hotz, Manuela Hugentobler, Nils Kapferer, Meret Lüdi (verantwortliche Redaktorin) und Rosemarie Weibel

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