Newsletter 2020#1 - Editorial

Am 9. Februar 2020 wurde die Erweiterung der Antirassismusstrafnorm mit überwältigender Mehrheit angenommen. Die Ja-Kampagne insbesondere der Lesben- und Schwulenorganisationen, die auf den Schutz vor Diskriminierung fokussierte, führte dazu, dass über 60% eine Ausweitung der Strafbarkeit von Hatespeech bezüglich der sexuellen Orientierung guthiessen. Der Abstimmungssonntag war eine Erleichterung; jedenfalls dann, wenn wir ihn als Ausdruck eines gesellschaftlichen Konsenses verstehen, der «abweichende» sexuelle Orientierungen als der heterosexuellen Norm gleichwertig betrachtet und Herabsetzungen nicht mehr toleriert. 
Befürworter*innen argumentierten im Vorfeld dementsprechend: Es sei wichtig, klar festzuhalten, dass verbale Gewalt gegenüber Homo- und Bisexuellen geächtet wird. Der Straftatbestand habe eine symbolische Wirkung, insbesondere für Jugendliche, die von Hatespeech besonders betroffen sind. Die Argumente der Gegner*innen waren denn auch wenig überzeugend. 
Dennoch gibt es berechtigte Zweifel an der Wirksamkeit von Strafrecht für die Beseitigung von Diskriminierung. Es besteht zunächst die Gefahr, dass mit Einführung einer Strafnorm die Aufgabe, der heteronormativen Strukturierung der Gesellschaft entgegenzuwirken, als erledigt betrachtet wird. Ausserdem: Strafrecht fokussiert, noch vielmehr als Diskriminierungsrecht im Allgemeinen, auf individuelles Fehlverhalten. Damit geraten Machtverhältnisse aus dem Blick, deren Analyse für die Beseitigung von Ungerechtigkeiten essentiell ist. So wird es überhaupt erst möglich, eine Norm, die zum Schutz vor Unterdrückung gedacht ist, ins Gegenteil zu verkehren: 
«Wenn ein schwules Tanzlokal Heterosexuelle abweist, so kann das in Zukunft strafbar sein» meinte schliesslich auch ein Schweizer Strafrechtsprofessor. Damit einher geht eine Vorstellung von Gleichheit, die weder den tatsächlichen Verhältnissen entspricht noch dem Schutz jener dient, die unter der Gewalt leiden. Implizit erwartet wird damit zudem eine Anpassung abweichender Lebensformen an die herrschende Norm – deutlich wurde dies, als das Parlament beschloss, Diskriminierungen aufgrund der Geschlechtsidentität aus der Vorlage auszuschliessen. Trans Personen sind im Vergleich mit Homo- und Bisexuellen im öffentlichen Diskurs viel weniger normalisiert. Entsprechend bezeichnete der Bundesrat dann auch Geschlechtsidentität als «unbestimmtes Kriterium». 
Fraglich ist zudem, wer von der neuen Strafnorm profitieren wird. Polizei und Justiz zeichnen sich häufig nicht gerade durch Progressismus aus, sondern reproduzieren die herrschenden Verhältnisse – diskriminierende Strukturen existieren auch innerhalb dieser Institutionen. Dass es einer gewissen Normalisierung bedurfte, um Homo- und Bisexuelle überhaupt strafrechtlichen Schutz zu gewähren, bedeutet auch für die Umsetzung dieser Strafnorm, dass wohl zuallererst diejenigen geschützt werden, 
die neben ihrer sexuellen Orientierung mit keinen weiteren Diskriminierungsebenen umzugehen haben; diejenigen, die Ressourcen, Fähigkeiten und Möglichkeiten haben, bei der Polizei Anzeige zu erstatten und ein Strafverfahren durchzustehen. Für rassisierte Personen oder für Sans Papiers ist polizeiliche Intervention und Strafrecht häufig keine Option, weil sie aufgrund von Racial Profiling und/oder ungesichertem Aufenthaltsstatus schlechte Erfahrungen mit diesen Institutionen gemacht haben. Für die «Marginalisiertesten der Marginalisierten» – und um sie müsste es jedem Versuch, Anti-Diskriminierungsrecht einzusetzen, gehen – ändert sich mit einer neuen Strafnorm kaum etwas. 
Gleichwohl ist sicher, dass der Abstimmungskampf um diese Norm den politischen Diskurs auch in Richtung einer gerechteren Gesellschaft verändert hat, indem er an die Arbeit von engagierten Anwältin*innen, Aktivist*innen und Theoretiker*innen anschliessen konnte, die sich seit Langem dafür einsetzen. Es bleibt zu hoffen, dass der Entscheid vom 9. Februar nicht als Abschluss dieses Diskurses verstanden wird sondern den Anfang einer breiten, differenzierten Auseinandersetzung über Normalität, Diskriminierung und 
heterocissexistischen Strukturen verkörpert.

Für die Redaktion:
Véronique Boillet, Michelle Cottier, Alexandre Fraikin, Sandra Hotz, Manuela Hugentobler, Nils Kapferer, Romina Loliva (verantwortliche Redaktorin) und Rosemarie Weibel

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