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FRI Newsletter 2019#1 – Editorial

Liebe Leser*innen

«Für uns ist Recht ein Mittel von vielen, um Herrschaftsverhältnisse anzugehen». Melanie Aebli, Anwältin in Bern, formulierte Dreh- und Angelpunkt unserer Konferenz «Recht in Bewegung – Gender Law 2019». Einer feministischen Utopie verpflichtet, arbeiteten wir drei Tage lang zusammen daran, Recht zu analysieren, Widersprüche aufzudecken und interdisziplinäre Bezüge herzustellen. Gekommen sind Anwält*innen, Student*innen, Jurist*innen, Geisteswissenschaftler*innen und Aktivist*innen. Es war Freude und Herausforderung zugleich, sich mit so vielen unterschiedlichen Perspektiven auseinanderzusetzen.
 
Eröffnet wurde die Veranstaltung von Patricia Purtschert mit einem aufschlussreichen Referat zu Geschlecht aus postkolonialer Perspektive. Sie argumentierte einleuchtend, wie die Entwicklung bürgerlicher Geschlechterstereotypen auf das Othering kolonisierter Frauen* angewiesen ist und wie notwendig es ist, gerade als weisse Wissenschaftler*in über begriffliche Ausschlüsse von rassisierten Körpern aus der Vorstellung von Geschlecht nachzudenken. Damit wurde verständlich, inwiefern intersektionale Perspektiven nicht etwas Zusätzliches sind, mit dem die Legal Gender Studies ergänzt werden müssen, sondern unentbehrlich, um Geschlecht überhaupt zu denken.
 
Am zweiten Tag führte Awino Okech diese Überlegungen weiter, indem sie über queer resistance in Südafrika, Uganda und Kenia bzw. die Möglichkeit von Widerstand in Bezug auf Recht als Ort der Transformation sprach. Sie legte dar, wie koloniale Vorstellungen von Sexualität die Sexualität in kolonisierten Gegenden veränderte und wie rechtliche Interventionen von Aktivist*innen die herrschenden Verhältnisse umformen können. Der Nachmittag war Fragen der Reproduktion gewidmet. Claire Grino, Philosophin in Lyon, sprach über das sogenannte «Social Egg Freezing», also über die Möglichkeit, Eizellen zu entnehmen, sie aufzubewahren und zu einem späteren Zeitpunkt zu befruchten. Referat und Roundtable machten deutlich, wie schwierig es ist, im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Zwängen und persönlichen Bedürfnissen zu einem emanzipatorischen Ansatz zu kommen. Nach einer intensiven Diskussion kamen wir schliesslich in den Genuss des Kulturprogrammes von Fribourg. Zunächst lauschten wir einem Vortrag von Anita Petrovski-Ostertag über die Verflechtungen von Marcellos Pythia und Coppolas Dracula und besuchten die Galerie Marcello des Museums für Kunst und Geschichte Freiburg. Der Abend endete mit einer Filmvorführung, einer Performance und einem rauschenden Fest im Fri-Son. 
 
Am Samstag stellten die vier Anwält*innen Melanie Aebli, Annina Mullis, Lena Reusser und Fiona Stämpfli ihr aufregendes Projekt vor: In ihrer 2017 gegründeten «Advokatur 4A» arbeiten die vier Frauen* auf Augenhöhe und ohne Hierarchie. Konkurrenzdenken hat für sie keinen Wert, Solidarität und kollektives Engagement hingegen schon. Fälle werden gemeinsam in Intervisionssitzungen besprochen, Administratives in regelmässigen Bürositzungen, Grundsätzliches an den Retraiten. Lea Bill, die das Sekretariat führt, bringt ihre Kompetenzen zusätzlich und auf gleicher Stufe ein. Die Diskussion war anregend und ermutigend. Sie zeigte, dass sowohl in der Theorie wie auch in der praktischen Rechtsanwendung andere Wege möglich und trotz Stolpersteinen auch erstrebenswert sind. 
 
Weiter ging es mit zwei Referaten zum Einfluss der gesellschaftlichen und rechtspolitischen Entwicklungen im Bereich der Gleichstellung auf die Praxis. Die Friedensrichterin Wanda Suter und die Gleichstellungsbeauftragte der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) Helene Fueger stellten dar, wie ihre Arbeit sich in den letzten Jahrzehnten geändert hat. Wanda Suter wies darauf hin, dass die Entwicklungen im Familienrecht – wie die Einführung der gemeinsamen elterlichen Sorge – auf dem Papier zwar einen Fortschritt in Richtung Gleichstellung bedeuten, real gesehen jedoch auch als Vorwand dienen können, die Stellung der Frauen* herabzusetzen. Helene Fueger zeigte auf, dass sich die Situation an den Hochschulen nach dem Inkrafttreten des Gleichstellungsgesetzes und des Hochschulförderungs- und Koordinationsgesetzes (HFKG) zwar verbessert hat, der Kampf um Frauen*förderung und Gleichstellung dennoch nicht beendet ist. Hier kann das Recht als Korrektiv wirken: Mit einem Rechtsgutachten wurde zum Beispiel festgestellt, dass die Förderungsmassnahmen für Frauen* des SNF «zulässig und ein Muss» sind. 
 
Zum Schluss wurde im Plenum die Frage diskutiert, wie wir uns alle trotz den Rückschlägen, Verzögerungen und Niederlagen motivieren können, weiterzumachen. Die Veranstaltung selbst war die Antwort. Zu sehen, dass viele Menschen aller Generationen interdisziplinär zusammen kommen und sich die Zeit nehmen gemeinsam zu diskutieren und zu reflektieren war äusserst wohltuend. 
 

Für die Redaktion:
Michelle Cottier, Alexandre Fraikin, Sandra Hotz, Manuela Hugentobler, Nils Kapferer, Romina Loliva (verantwortliche Redaktorin) und Rosemarie Weibel